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Schriften

Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben.

Eine Antikritik von Rosa Luxemburg

1921 Frankes Verlag G. m. b. H. in Leipzig

I[1]

<415> Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale. Als ich meine „Akkumulation“[2] schrieb, bedrückte mich von Zeit zu Zeit der Gedanke, alle theoretisch interessierten Anhänger der Marxschen Lehre würden erklären, das, was ich so eingehend darzulegen und zu begründen suche, sei ja eine Selbstverständlichkeit. Niemand habe sich die Sache eigentlich anders gedacht; die Lösung des Problems sei überhaupt die einzig mögliche und denkbare. Es ist anders gekommen: Eine Reihe von Kritikern in der sozialdemokratischen Presse haben das Buch für völlig verfehlt in der Anlage erklärt[3], denn – ein Problem, das zu lösen wäre, existiere auf diesem Gebiete gar nicht, ich sei das bedauernswerte Opfer eines puren Mißverständnisses geworden. Ja an das Erscheinen meines Buches haben sich Vorgänge geknüpft, die jedenfalls als ungewöhnlich bezeichnet werden müssen. Die im „Vorwärts“ vom 16. Februar 1913 erschienene „Besprechung“ der „Akkumulation“ stellt an Ton und Inhalt etwas sogar für wenig mit der Materie vertraute Leser ganz Auffälliges dar, um so auffälliger, als das kritisierte Buch von rein theoretischem Charakter, gegen keinen der lebenden Marxisten polemisierend, von strengster Sachlichkeit <416> ist. Nicht genug. Gegen diejenigen, die eine zustimmende Besprechung des Buches veröffentlicht hatten, wurde eine Art obrigkeitlicher Aktion eingeleitet, die namentlich vom Zentralorgan mit merkwürdiger Wärme betrieben wurde.[4] Ein beispielloser und an sich etwas komischer Vorgang: In Sachen einer rein theoretischen Arbeit über ein verwickeltes, abstrakt-wissenschaftliches Problem tritt die ganze Redaktion einer politischen Tageszeitung auf – von der höchstens zwei Mitglieder das Buch überhaupt gelesen haben dürften –, um ein korporatives Urteil über dasselbe zu fällen, indem sie Männern wie Franz Mehring und J. Karski jedes Sachverständnis in nationalökonomischen Fragen abspricht[5], um nur diejenigen, die mein Buch herunterrissen, als „Sachverständige“ zu bezeichnen!
Ein derartiges Schicksal war, soviel mir erinnerlich, noch keiner Neuerscheinung der Parteiliteratur, seit sie besteht, zuteil geworden, und es ist wirklich nicht lauter Gold und Perlen, was seit Jahrzehnten in den sozialdemokratischen Verlagen erscheint. Das Ungewöhnliche all dieser Vorgänge verrät deutlich, daß wohl noch andere Leidenschaften als „reine Wissenschaft“ durch das Buch so oder anders berührt worden sind. Doch um diese Zusammenhänge richtig zu beurteilen, muß man erst die einschlägige Materie wenigstens in den Hauptzügen kennen.
Worum handelt es sich in dem so heftig bekämpften Buche? Für das lesende Publikum erscheint die Materie durch ein äußeres und an sich nebensächliches Beiwerk in hohem Maße abschreckend: durch die dabei reichlich verwendeten mathematischen Formeln. Namentlich in den Kritiken meines Buches bilden diese Formeln den Mittelpunkt, und einige der gestrengen Herren Kritiker haben sogar unternommen, um mich gründlich zu belehren, neue und noch verwickeltere mathematische Formeln aufzubauen, bei deren bloßem Anblick den gewöhnlichen Sterblichen ein gelindes Grauen überkommt. Wir werden weiter sehen, daß diese Vorliebe meiner „Sachverständigen“ für die Schemata kein Zufall, sondern mit ihrem Standpunkt in der Sache selbst aufs engste verknüpft ist. Doch ist das Problem der Akkumulation an sich rein ökonomischer, gesellschaftlicher Natur, hat mit mathematischen Formeln nichts zu tun, läßt sich auch <417> ohne sie darstellen und begreifen. Wenn Marx im Abschnitt seines „Kapitals“ über die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals mathematische Schemata konstruierte, wie hundert Jahre vor ihm Quesnay, der Schöpfer der Physiokratenschule[6] und der Nationalökonomie als exakte Wissenschaft, so diente dies beiden lediglich zur Erleichterung und Verdeutlichung der Darlegungen. Es diente auch Marx wie Quesnay zur Veranschaulichung der Tatsache, daß es sich bei den Vorgängen des wirtschaftlichen Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft trotz seiner wirren Oberfläche und scheinbarer Herrschaft der individuellen Willkür im Grunde um ebenso streng gesetzmäßige Zusammenhänge handelt wie etwa bei den Vorgängen der physischen Natur. Da nun meine Ausführungen über die Akkumulation sowohl auf der Marxschen Darstellung fußten wie kritisch sich mit ihr auseinandersetzten, da Marx speziell in der Akkumulationsfrage eben nicht über die Aufstellung einiger Schemata und den Anfang ihrer Analyse hinausgegangen ist, was gerade den Ansatzpunkt meiner Kritik bildete, so mußte auch ich selbstverständlich auf die Marxschen Schemata eingehen. Einmal, weil ich sie aus der Marxschen Darlegung nicht willkürlich ausschalten durfte, dann aber, um gerade das Unzureichende jener Beweisführung klarzulegen.
Versuchen wir nun, das Problem in der allereinfachsten Form ohne alle mathematischen Formeln zu fassen.
Die kapitalistische Produktionsweise wird beherrscht von dem Profitinteresse. Für jeden Kapitalisten hat die Produktion nur dann Sinn und Zweck, wenn sie dazu führt, ihm jahraus, jahrein die Taschen mit „reinem Einkommen“ zu füllen, d. h. mit Profit, der über alle seine Kapitalauslagen hinaus übrigbleibt. Aber das Grundgesetz der kapitalistischen Produktion im Unterschied von jeder anderen auf Ausbeutung beruhenden Wirtschaftsform ist nicht bloß Profit in blankem Gold, sondern stets wachsender Profit. Zu diesem Zwecke verwendet der Kapitalist, wiederum im kardinalen Unterschied von anderen geschichtlichen Typen des Ausbeuters, die Frucht seiner Ausbeutung nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie zum persönlichen Luxus, sondern in fortschreitendem Maße zur Steigerung der Ausbeutung selbst. Der größte Teil des erzielten Profits wird wieder zum Kapital geschlagen, zur Erweiterung der Produktion verwendet. Das Kapital häuft sich so an, es wird nach dem Marxschen Ausdruck „akkumuliert“, und als Voraussetzung sowohl wie als Folge der Akkumulation dehnt sich die kapitalistische Produktion immer mehr aus.
Um dies zu bewerkstelligen, ist jedoch guter Wille der Kapitalisten <418> nicht ausreichend. Der Prozeß ist an objektive gesellschaftliche Bedingungen gebunden, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen.
Vor allem muß zur Ermöglichung der Ausbeutung die Arbeitskraft in genügendem Maße vorhanden sein. Daß dies der Fall, dafür sorgt das Kapital, nachdem die kapitalistische Produktionsweise einmal geschichtlich in Fluß gekommen und einigermaßen konsolidiert ist, durch den eigenen Mechanismus dieser Produktion. Und zwar, 1. indem es den beschäftigten Lohnarbeitern schlecht oder recht ermöglicht, sich durch den erhaltenen Lohn für die Zwecke der weiteren Ausbeutung zu erhalten und durch natürliche Fortpflanzung zu vermehren, aber auch nur dies ermöglicht; 2. indem es durch ständige Proletarisierung der Mittelschichten wie durch die Konkurrenz, die es dem Lohnarbeiter mit der Maschine in der Großindustrie bereitet, eine stets disponible Reservearmee des Industrieproletariats bildet.
Nachdem diese Bedingung erfüllt, d. h. stets verfügbares Ausbeutungsmaterial in Gestalt des Lohnproletariats gesichert und der Mechanismus der Ausbeutung durch das Lohnsystem selbst geregelt ist, kommt eine neue Grundbedingung der Kapitalakkumulation in Betracht: die Möglichkeit, fortschreitend die von den Lohnarbeitern hergestellten Waren zu verkaufen, um sowohl die eigenen Auslagen des Kapitalisten wie den der Arbeitskraft abgepreßten Mehrwert in Geld zurückzuerhalten. „Die erste Bedingung der Akkumulation ist, daß der Kapitalist es fertiggebracht hat, seine Waren zu verkaufen und den größten Teil des so erhaltenen Geldes in Kapital rückzuverwandeln.“ (Das Kapital, Bd. I, 7. Abschnitt, Einleitung.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 589.] Damit die Akkumulation als fortlaufender Prozeß stattfindet, ist somit eine ständig wachsende Möglichkeit des Warenabsatzes für das Kapital unentbehrlich. Die Grundbedingung der Ausbeutung schafft sich das Kapital, wie wir gesehen, selbst. Der erste Band des Marxschen „Kapitals“ hat diesen Prozeß eingehend analysiert und geschildert. Wie ist es aber mit der Realisierbarkeit der Früchte jener Ausbeutung, mit den Absatzmöglichkeiten? Wovon hängen diese ab? Liegt es etwa in der Macht des Kapitals oder im Wesen seines Produktionsmechanismus selbst, den Absatz seinen Bedürfnissen gemäß zu erweitern, so wie er die Zahl der Arbeitskräfte seinen Bedürfnissen anpaßt? Durchaus nicht. Hier kommt die Abhängigkeit des Kapitals von den gesellschaftlichen Bedingungen zum Ausdruck. Die kapitalistische Produktion hat trotz all ihrer Kardinalunterschiede von anderen geschichtlichen Produktionsformen mit ihnen allen das gemein, daß sie in letzter Linie, <419> trotzdem für sie subjektiv nur das Profitinteresse als maßgebender Zweck in Betracht kommt, objektiv die materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen muß und sie jenen subjektiven Zweck nur dadurch und nur in dem Maße erreichen kann, als sie dieser objektiven Aufgabe genügt. Die kapitalistischen Waren können nur dann und insofern verkauft, der in ihnen steckende Profit nur so weit zu Geld gemacht werden, als diese Waren das gesellschaftliche Bedürfnis befriedigen. Die stetige Erweiterung der kapitalistischen Produktion, d. h. die stetige Akkumulation des Kapitals, ist also gebunden an eine ebenso stetige Erweiterung des gesellschaftlichen Bedürfnisses.
Aber was ist das gesellschaftliche Bedürfnis? Läßt es sich irgendwie genauer fassen, ist es irgendwie meßbar, oder sind wir hier nur auf den vagen Begriff angewiesen?
Betrachtet man die Sache so, wie sie sich zunächst an der Oberfläche des wirtschaftlichen Lebens in der täglichen Praxis, d. h. vom Standpunkte des einzelnen Kapitalisten darbietet, so ist sie in der Tat unfaßbar. Ein Kapitalist produziert und verkauft Maschinen. Seine Abnehmer sind andere Kapitalisten, die ihm seine Maschinen abkaufen, um damit wieder kapitalistisch andere Waren zu produzieren. Jener kann also desto mehr seine Waren absetzen, je mehr diese ihre Produktion erweitern, er kann um so rascher akkumulieren, je mehr andere in ihren Produktionszweigen akkumulieren. Hier wäre „das gesellschaftliche Bedürfnis“, an das unser Kapitalist gebunden ist, der Bedarf anderer Kapitalisten, die Voraussetzung seiner Produktionserweiterung – die der ihrigen. Ein anderer produziert und verkauft Lebensmittel für die Arbeiter. Er kann sie um so mehr verkaufen, also um so mehr Kapital akkumulieren, je mehr Arbeiter bei anderen Kapitalisten (und auch bei ihm selbst) beschäftigt sind oder, mit anderen Worten, je mehr andere Kapitalisten produzieren und akkumulieren. Wovon hängt es aber ab, ob die „anderen“ ihre Betriebe erweitern können? Augenscheinlich wiederum davon, ob „diese“ Kapitalisten, ob z. B. die Produzenten der Maschinen, der Lebensmittel ihnen in steigendem Maße ihre Waren abnehmen. Das „gesellschaftliche Bedürfnis“, von dem die Kapitalakkumulation abhängig ist, scheint so bei näherem Zusehen die Kapitalakkumulation selbst zu sein. Je mehr das Kapital akkumuliert, desto mehr akkumuliert es – auf diese leere Tautologie oder diesen schwindelerregenden Zirkel scheint die nähere Betrachtung hinauszulaufen. Wo hier der Anfang, die Initiative des Impulses liegen soll, ist nicht abzusehen. Wir drehen uns offenbar im Kreise, und das Problem zerrinnt uns unter den Händen. Das tut es auch in der Tat, aber nur so-<420>lange wir die Sache vom Standpunkte der Marktoberfläche, d. h. des Einzelkapitals, dieser beliebten Plattform des Vulgärökonomen, untersuchen wollen. [7]
Die Sache bekommt aber gleich Gestalt und strengen Umriß, wenn wir die kapitalistische Produktion als Ganzes, vom Standpunkte des Gesamtkapitals, also dem in letzter Linie einzig maßgebenden und richtigen betrachten. Dies ist eben der Standpunkt, den Marx im zweiten Bande seines „Kapitals” zum erstenmal systematisch entwickelt, den er aber seiner ganzen Theorie zugrunde gelegt hat. Die selbstherrliche Privatexistenz des Einzelkapitals ist in der Tat lediglich äußere Form, Oberfläche des Wirtschaftslebens, die nur vom Vulgärökonomen als Wesen der Dinge und einzige Quelle der Erkenntnis betrachtet wird. Unter dieser Oberfläche und durch alle Gegensätze der Konkurrenz hindurch bewährt sich die Tatsache, daß alle Einzelkapitale gesellschaftlich ein Ganzes bilden, daß ihre Existenz und Bewegung durch gemeinsame gesellschaftliche Gesetze regiert wird, die nur infolge der Planlosigkeit und Anarchie des heutigen Systems hinter dem Rücken der einzelnen Kapitalisten und entgegen ihrem Bewußtsein von hintenherum durch lauter Abweichungen sich durchsetzen.
Fassen wir die kapitalistische Produktion als Ganzes zusammen, dann wird bald auch das gesellschaftliche Bedürfnis eine faßbare Größe, die sich greifbar gliedert.
Stellen wir uns vor, alle in der kapitalistischen Gesellschaft hergestellten Waren wären jedes Jahr auf einem Platz, auf einem großen Haufen zusammengestapelt, um in der Gesellschaft als Gesamtmasse Verwendung zu finden. Wir werden dann alsbald finden, daß sich dieser Warenbrei mit Selbstverständlichkeit in einige große Portionen von verschiedener Art und Bestimmung scheidet.
In jeder Gesellschaftsform und zu allen Zeiten mußte die Produktion in dieser oder jener Weise zweierlei besorgen. Sie mußte erstens die Gesellschaft schlecht oder recht ernähren, bekleiden und ihre sonstigen Kulturbedürfnisse durch materielle Dinge befriedigen, d. h„ sie mußte, um alles zusammenzunehmen, Lebensmittel im weitesten Sinne dieses Wortes für die Bevölkerung aller Schichten und Alter herstellen. Zweitens musste <421> jede Produktionsform, um die Fortexistenz der Gesellschaft, also ihre weitere Arbeit zu ermöglichen, jedesmal zum Ersatz der jeweilig verbrauchten neue Produktionsmittel: Rohstoffe, Werkzeuge, Arbeitsgebäude usw„ herstellen. Ohne die Befriedigung dieser beiden elementarsten Bedürfnisse jeder menschlichen Gesellschaft wäre Kulturentwicklung und Fortschritt unmöglich. Und diesen elementaren Anforderungen muß auch die kapitalistische Produktion, durch alle Anarchie und unbeschadet aller Profitinteressen, im ganzen Rechnung tragen.
Dementsprechend werden wir in jenem kapitalistischen Gesamtwarenlager, das wir uns vorgestellt haben, vor allem eine große Portion Waren vorfinden, die den Ersatz der im letzten Jahre verbrauchten Produktionsmittel darstellt. Das sind die neuen Rohstoffe, Maschinen, Baulichkeiten usw. (oder das, was Marx „konstantes Kapital“ nennt), welche die verschiedenen Kapitalisten füreinander in ihren Betrieben herstellen und die sie alle untereinander austauschen müssen, damit die Produktion in allen Betrieben in ihrem früheren Umfang wieder aufgenommen werden kann. Da es (nach unserer bisherigen Annahme) die kapitalistischen Betriebe sind, die alle benötigten Produktionsmittel für den Arbeitsprozeß der Gesellschaft selbst liefern, so ist der Austausch der entsprechenden Waren auf dem Markte auch nur sozusagen eine innere, häusliche Angelegenheit der Kapitalisten untereinander. Das Geld, das dazu erforderlich ist, um allseitig diesen Warenaustausch zu vermitteln, kommt natürlich aus der Tasche der Kapitalistenklasse selbst – da ja jeder Unternehmer über das entsprechende Geldkapital für seinen Betrieb im voraus verfügen muß – und kehrt ebenso natürlich nach vollzogenem Austausch vom Markte in die Tasche der Kapitalistenklasse zurück.
Da wir hier nur die Erneuerung der Produktionsmittel in früherem Umfang in Betracht ziehen, so genügt auch jahrein, jahraus dieselbe Geldsumme, um periodisch die gegenseitige Versorgung der Kapitalisten mit Produktionsmitteln zu vermitteln und immer wieder zu einer Ruhepause in ihre Taschen zurückzukehren.
Eine zweite große Abteilung der kapitalistischen Warenmasse muß, wie in jeder Gesellschaft, die Lebensmittel der Bevölkerung enthalten. Aber wie gliedert sich in der kapitalistischen Gesellschaftsform die Bevölkerung, und wie kommt sie zu ihren Lebensmitteln? Zwei Grundformen charakterisieren die kapitalistische Produktionsweise. Erstens allgemeiner Warenaustausch, und das heißt in diesem Fall, daß niemand von der Bevölkerung das geringste Lebensmittel aus der gesellschaftlichen Warenmasse erhält, der nicht Kaufmittel, Geld, zu ihrem Ankauf besitzt. Zwei-<422>tens kapitalistisches Lohnsystem, d. h. ein Verhältnis, wobei die große Masse des arbeitenden Volkes nur durch den Austausch der Arbeitskraft mit dem Kapital zu Kauf mitteln für Waren gelangt und wo die besitzende Klasse nur durch die Ausbeutung dieses Verhältnisses zu ihren Lebensmitteln gelangt. So setzt die kapitalistische Produktion von selbst zwei große Bevölkerungsklassen voraus: Kapitalisten und Arbeiter, die in bezug auf Versorgung mit Lebensmitteln grundverschieden gestellt sind. Die Arbeiter müssen, so gleichgültig ihr Los an sich dem einzelnen Kapitalisten ist, mindestens ernährt werden, soweit ihre Arbeitskraft für Zwecke des Kapitals verwendbar, damit sie zur weiteren Ausbeutung erhalten bleiben. Von der Gesamtmasse der von den Arbeitern hergestellten Waren wird ihnen also durch die Kapitalistenklasse jährlich, genau im Maße ihrer Verwendbarkeit in der Produktion, eine Portion Lebensmittel zugewiesen. Zum Ankauf dieser Waren kriegen die Arbeiter von ihren Unternehmern die Löhne in Geldform. Auf dem Wege des Austausches bekommt also die Arbeiterklasse alljährlich für den Verkauf ihrer Arbeitskraft erst von der Kapitalistenklasse eine gewisse Geldsumme, womit sie sich wiederum aus der gesellschaftlichen Warenmasse, die ja Eigentum der Kapitalisten ist, die Portion Lebensmittel eintauscht, die ihr je nach ihrer Kulturhöhe und dem Stand des Klassenkampfes zugestanden wird. Das Geld, das diesen zweiten großen Austausch in der Gesellschaft vermittelt, kommt somit wiederum aus der Tasche der Kapitalistenklasse: Jeder Kapitalist muß zum Betriebe seiner Unternehmung das von Marx sogenannte „variable Kapital“, d. h. das nötige Geldkapital zum Ankauf der Arbeitskraft, vorstrecken. Dieses Geld kehrt aber, nachdem die Arbeiter allseitig ihre Lebensmittel eingekauft haben (und jeder Arbeiter muß dies zur eigenen und der Familie Erhaltung tun), auf Heller und Pfennig in die Tasche der Kapitalisten als Klasse wieder zurück. Sind es doch kapitalistische Unternehmer, die den Arbeitern ihre Lebensmittel als Waren verkaufen. Nun zur Konsumtion der Kapitalisten selbst. Die Lebensmittel der Kapitalistenklasse gehören ihr schon als Warenmasse vor jedem Austausch, und zwar kraft des kapitalistischen Verhältnisses, wonach alle Waren überhaupt – außer der einzigen Ware Arbeitskraft – als Eigentum des Kapitals zur Welt kommen. Freilich kommen jene „besseren“ Lebensmittel, gerade weil Waren, nur als Eigentum vieler zersplitterter Privatkapitalisten, als respektives Privateigentum jedes Einzelkapitalisten zur Welt. So muß auch, damit die Kapitalistenklasse zum Genuß der ihr gehörigen Lebensmittelmasse gelangt – wie beim konstanten Kapital –, ein allseitiger Händewechsel unter den Kapitalisten stattfinden. Auch dieser gesellschaft-<423>liche Austausch muß durch Geld vermittelt werden, und die zu diesem Behufe erforderliche Geldmenge müssen abermals die Kapitalisten selbst in Umlauf werfen – handelt es sich doch wieder, wie bei der Erneuerung des konstanten Kapitals, um eine innere, häusliche Angelegenheit der Unternehmerklasse. Und wiederum kehrt nach vollzogenem Austausch auch diese Geldsumme immer wieder in die Tasche der Gesamtklasse der Kapitalisten zurück, aus der sie gekommen.
Daß jedes Jahr die notwendige Portion Lebensmittel mit dem nötigen Luxus für die Kapitalisten auch tatsächlich hergestellt wird, dafür sorgt derselbe Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung, der überhaupt das Lohnverhältnis regelt. Würden die Arbeiter nur so viel Lebensmittel herstellen, wie zu ihrer eigenen Erhaltung erforderlich, dann wäre ihre Beschäftigung vom Standpunkt des Kapitals eine Sinnlosigkeit. Sie beginnt erst Sinn zu kriegen, wenn der Arbeiter über die eigene Erhaltung hinaus, die seinem Lohn entspricht, auch noch die Erhaltung seiner „Brotgeber“ besorgt, d. h. für den Kapitalisten nach der Marxschen Bezeichnung „Mehrwert“ schafft. Und dieser Mehrwert muß unter anderem dazu dienen, die Kapitalistenklasse wie jede Ausbeuterklasse in den früheren Geschichtsperioden mit dem nötigen Lebensunterhalt und Luxus zu versehen. Den Kapitalisten bleibt dann noch die besondere Mühe übrig, durch gegenseitigen Austausch der entsprechenden Waren und die Bereitstellung der hierfür nötigen Geldmittel die dornen- und entsagungsvolle Existenz der eigenen Klasse sowie ihre natürliche Fortpflanzung zu besorgen.
Damit wären in unserem gesellschaftlichen Gesamtwarenbrei vorerst zwei große Portionen erledigt: Produktionsmittel zur Erneuerung des Arbeitsprozesses und Lebensmittel zur Erhaltung der Bevölkerung, d. h. einerseits der Arbeiterklasse und andererseits der Kapitalistenklasse.
Wohlgemerkt, es kann leicht den Anschein haben, als ob wir mit dem bisherigen ein reines Phantasiegebilde zeichneten. Wo weiß heute ein Kapitalist, und welcher Kapitalist kümmert sich überhaupt darum, was und wieviel zum Ersatz des verbrauchten Gesamtkapitals, zur Ernährung der gesamten Arbeiterklasse oder Kapitalistenklasse nötig ist? Produziert doch jeder Unternehmer blindlings darauf los, um die Wette mit anderen, und sieht doch jeder gerade nur, was vor seiner Nase vorgeht. Allein in all dem wirren Durcheinander der Konkurrenz und der Anarchie gibt es offenbar schließlich unsichtbare Regeln, die sich durchsetzen, sonst wäre die kapitalistische Gesellschaft schon längst in Trümmer gegangen. Und es ist der ganze Sinn der Nationalökonomie als Wissenschaft wie namentlich der bewußte Zweck der Marxschen ökonomischen Lehre, jene verbor-<424>genen Gesetze aufzuzeigen, die mitten im Wirrwarr der Privatwirtschaften Ordnung und Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen herstellen. Diesen objektiven unsichtbaren Regeln der kapitalistischen Akkumulation – Kapitalanhäufung durch fortschreitende Produktionserweiterung – haben wir jetzt nachzuspüren. Daß diese Gesetze, die wir hier darlegen, für die bewußte Handlungsweise der agierenden Einzelkapitale nicht maßgebend sind, daß in der Tat kein Gesamtorgan der Gesellschaft existiert, welches diese Regeln bewußt aufstellen und ins Werk setzen würde, daraus folgt nur, daß die heutige Produktion, wie ein Taumelnder, durch lauter Zuviel oder Zuwenig, durch lauter Preisschwankungen und Krisen ihren Aufgaben gerecht wird. Aber gerade diese Preisschwankungen und Krisen haben schließlich für die Gesellschaft im ganzen nur den Sinn, daß sie die chaotische Privatproduktion stündlich und periodisch immer wieder ins Geleise der allgemeinen großen Zusammenhänge einrenken, ohne die sie sehr bald aus dem Leim gehen müßte. Wenn wir also hier mit Marx das Verhältnis der kapitalistischen Gesamtproduktion zum gesellschaftlichen Bedürfnis in großen Linien zu entwerfen suchen, sehen wir bloß von den spezifischen Methoden des Kapitalismus: Preisschwankungen und Krisen, ab, wodurch er jene Verhältnisse ins Werk setzt, und schauen der Sache auf den Grund.
Mit jenen zwei großen Portionen der gesellschaftlichen Warenmasse, die wir erledigt haben, kann es nun aber doch sein Bewenden nicht haben. Würde die Ausbeutung der Arbeitenden nur dazu dienen, den Ausbeutern ein üppiges Leben zu gestatten, dann hätten wir eine Art modernisierter Sklavengesellschaft oder mittelalterlicher Feudalherrschaft, nicht aber die moderne Herrschaft des Kapitals. Ihr Lebenszweck und -beruf ist: Profit in Geldgestalt, Anhäufung von Geldkapital. Also beginnt der eigentliche historische Sinn der Produktion erst dort, wo die Ausbeutung über jene Schranke hinausgeht. Der Mehrwert muß nicht bloß hinreichend sein, um die „standesgemäße“ Existenz der Kapitalistenklasse zu gestatten, sondern darüber hinaus einen zur Akkumulation bestimmten Teil enthalten. Ja dieser überragende eigentliche Zweck ist so maßgebend, daß die Arbeiter nur in dem Maße beschäftigt, also auch in die Lage versetzt werden, für sich selbst Lebensmittel zu beschaffen, als sie diesen zur Akkumulation bestimmten Profit erzeugen und als Aussicht besteht, ihn auch wirklich in Geldgestalt akkumulieren zu können.
In unserem gedachten Gesamtwarenlager der kapitalistischen Gesellschaft müssen wir dementsprechend auch noch eine dritte Portion Waren vorfinden, die weder zur Erneuerung der verbrauchten Produktionsmittel <425> noch zur Erhaltung der Arbeiter und Kapitalisten bestimmt ist; alles dies haben wir bereits erledigt. Es wird eine Portion Waren sein, die jenen unschätzbaren Teil des aus den Arbeitern ausgepreßten Mehrwerts enthalten, der so eigentlich den Lebenszweck des Kapitals darstellt: den zur Kapitalisierung, zur Akkumulation bestimmten Profit. Welcher Art Waren sind das nun, und wer in der Gesellschaft hat für sie Bedarf, d. h„ wer nimmt sie den Kapitalisten ab, um ihnen endlich zu dem wichtigsten Teil des Profits in blankem Gold zu verhelfen?
Hier sind wir an den Kern des Akkumulationsproblems gelangt und müssen alle Versuche seiner Lösung prüfen.
Können es vielleicht die Arbeiter sein, die die letzte Portion Waren vom gesellschaftlichen Warenlager abnehmen? Aber die Arbeiter besitzen gar keine Kaufmittel außer den ihnen von den Unternehmern eingehändigten Löhnen und entnehmen im Ausmaß dieser Löhne nur den ihnen knapp zugewiesenen Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Darüber hinaus können sie nicht um einen Deut Abnehmer von kapitalistischen Waren sein, soviel sie noch an unbefriedigten Lebensbedürfnissen haben mögen. Auch geht das Bestreben und das Interesse der Kapitalistenklasse dahin, diese von den Arbeitern konsumierte Portion des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und die Kaufmittel dafür möglichst knapp, nicht möglichst reichlich zu bemessen. Denn vom Standpunkt der Kapitalisten als Gesamtklasse – es ist sehr wichtig, diesen Standpunkt im Unterschied von den krausen Vorstellungen des Einzelkapitalisten festzuhalten – sind die Arbeiter für sie nicht Warenabnehmer, nicht „Kunden“ wie andere, sondern bloß Arbeitskraft, deren Erhaltung aus einem Teil ihres eigenen Produkts traurige Notwendigkeit ist, die auf das jeweilig sozial zulässige Mindestmaß reduziert wird.
Können vielleicht die Kapitalisten selbst Abnehmer für jene letzte Portion ihrer gesellschaftlichen Warenmasse sein, indem sie die eigene Privatkonsumtion erweitern? Machbar wäre die Sache vielleicht schon, obwohl für den Luxus der herrschenden Klasse mit Einfluß selbst jeglicher Narretei auch ohnehin reichlich gesorgt ist. Allein, wenn die Kapitalisten den gesamten aus ihren Arbeitern ausgepreßten Mehrwert selbst restlos verjubeln würden, so würde aus der Akkumulation eben nichts werden. Wir hätten dann den vom Standpunkt des Kapitals ganz phantastischen Rückfall in eine modernisierte Art Sklavenwirtschaft oder Feudalismus. Nun ist zwar Umgekehrtes wohl denkbar und wird gelegentlich fleißig praktiziert: Kapitalistische Akkumulation mit Ausbeutungsformen der Sklaverei oder Leibeigenschaft haben wir bis zu den sechziger Jahren des vorigen Jahr-<426>hunderts in den Vereinigten Staaten, jetzt noch in Rumänien, in verschiedenen überseeischen Kolonien beobachten können. Aber der entgegengesetzte Fall: moderne Form der Ausbeutung, also freies Lohnverhältnis, mit nachträglicher antiker oder feudaler Verjubelung des Mehrwerts unter Vernachlässigung der Akkumulation, diese Todsünde wider den Heiligen Geist des Kapitals ist einfach undenkbar. Wiederum unterscheidet sich hier wohlgemerkt der Standpunkt des Gesamtkapitals von dem des Einzelunternehmers sehr wesentlich. Für diesen letzten erscheint z. B. auch der Luxus der „großen Herrschaften“ als erwünschte Absatzerweiterung, also erstklassige Akkumulationsgelegenheit. Für alle Kapitalisten zusammen als Klasse ist Verzehr des gesamten Mehrwertes im Luxus heller Wahnsinn, ökonomischer Selbstmord, weil geradezu Vernichtung der Akkumulation in der Wurzel.
Wer kann also Abnehmer, Konsument für die gesellschaftliche Warenproduktion sein, deren Verkauf erst die Akkumulation ermöglichen soll? Soviel ist klar, es können dies weder Arbeiter noch Kapitalisten selbst sein.
Gibt es aber in der Gesellschaft nicht noch allerlei Schichten, wie Beamte, Militärs, Klerus, Gelehrte, Künstler, die weder zu Arbeitern noch zu Unternehmern zu zählen sind? Müssen nicht alle diese Kategorien der Bevölkerung auch ihre Konsumtion befriedigen, und können sie nicht gerade als die gesuchten Abnehmer für den Überschuß der Waren auftreten? Wiederum: für den Einzelkapitalisten gewiß! Anders jedoch, wenn wir alle Unternehmer als Klasse, wenn wir das gesellschaftliche Gesamtkapital betrachten. In der kapitalistischen Gesellschaft sind alle die aufgezählten Schichten und Berufe ökonomisch nur Anhängsel der Kapitalistenklasse. Fragen wir, woher die Beamten, Militärs, Geistlichen, Künstler usw. ihre Kaufmittel beziehen, so stellt sich heraus, daß sie teils aus der Tasche der Kapitalisten, teils (vermittels des indirekten Steuersystems) aus den Arbeiterlöhnen erhalten werden. Diese Schichten können also ökonomisch für das Gesamtkapital nicht als besondere Konsumentenklasse zählen, da sie keine selbständige Quelle der Kaufkraft besitzen, vielmehr als Mitesser der beiden großen Massen: Kapitalisten und Arbeiter, bereits in der Konsumtion jener mit inbegriffen sind.
Wir sehen also vorläufig keine Abnehmer, keine Möglichkeit, die letzte Warenportion an den Mann zu bringen, deren Verkauf erst die Akkumulation bewerkstelligen soll.
Am Ende ist der Ausweg aus der Schwierigkeit ganz einfach. Vielleicht gebärden wir uns wie jener Reiter, der verzweifelt nach dem Gaul herum-<427>suchte, auf dem er saß. Die Kapitalisten sind sich vielleicht gegenseitig Abnehmer auch für diesen Rest der Waren – nicht zwar um sie zu verprassen, aber um sie gerade zur Erweiterung der Produktion, zur Akkumulation zu verwenden. Denn was ist Akkumulation anders als eben Erweiterung der kapitalistischen Produktion? Nur müssen jene Waren, um diesem Zwecke zu entsprechen, nicht in Luxusgegenständen für den Privatkonsum der Kapitalisten, sondern in allerlei Produktionsmitteln (neuem konstantem Kapital) sowie in Lebensmitteln für Arbeiter bestehen.
Schon gut. Aber eine solche Lösung verschiebt die Schwierigkeit nur von diesem Moment auf den nächsten. Denn nachdem wir so annehmen, daß die Akkumulation losgegangen ist und die erweiterte Produktion im nächsten Jahr eine noch viel größere Warenmasse als in diesem auf den Markt wirft, entsteht wieder die Frage: Wo finden wir dann die Abnehmer für diese noch mehr gewachsene Warenmenge?
Wird man etwa antworten: Nun, diese gewachsene Warenmenge wird auch im folgenden Jahr wiederum von den Kapitalisten selbst untereinander ausgetauscht und von ihnen allen verwendet, um die Produktion abermals zu erweitern – und so fort von Jahr zu Jahr –, dann haben wir ein Karussell vor uns, das sich in leerer Luft um sich selbst dreht. Das ist dann nicht kapitalistische Akkumulation, d. h. Anhäufung von Geldkapital, sondern das Gegenteil: ein Produzieren von Waren um des Produzierens willen, also vom Kapitalstandpunkt eine vollendete Sinnlosigkeit. Wenn die Kapitalisten als Klasse immer nur selbst Abnehmer ihrer gesamten Warenmasse sind – abgesehen von dem Teil, den sie jeweilig der Arbeiterklasse zu deren Erhaltung zuweisen müssen –, wenn sie sich selbst mit eigenem Gelde stets die Waren abkaufen und den darin enthaltenen Mehrwert „vergolden“ müssen, dann kann Anhäufung des Profits, Akkumulation, bei der Klasse der Kapitalisten im ganzen unmöglich stattfinden.
Soll diese Platz greifen, dann müssen sich vielmehr anderweitige Abnehmer für die Warenportion finden, in welcher der zur Akkumulation bestimmte Profit steckt, Abnehmer, die ihre eigenen Kaufmittel aus selbständiger Quelle beziehen und sie nicht erst aus der Tasche des Kapitalisten herleiten wie die Arbeiter oder die Mitarbeiter des Kapitals: Staatsorgane, Militär, Geistlichkeit, liberale Berufe. Es müssen dies also Abnehmer sein, die zu ihren Kaufmitteln auf Grund von Warenaustausch, also auch von Warenproduktion gelangen, die außerhalb der kapitalistischen Warenproduktion stattfindet; es müssen dies somit Produzenten sein, deren Produktionsmittel nicht als Kapital anzusehen und die selbst <428> nicht in die zwei Kategorien: Kapitalisten und Arbeiter, gehören, die aber dennoch so oder anders Bedarf nach kapitalistischen Waren haben.
Wo sind aber solche Abnehmer? Außer den Kapitalisten mit ihrem Troß von Parasiten gibt es ja in der heutigen Gesellschaft keine anderen Klassen oder Schichten!
Hier kommen wir an den Knotenpunkt der Frage. Marx nimmt im zweiten Bande des „Kapitals“ wie auch im ersten Bande zur Voraussetzung seiner Betrachtungen, daß die kapitalistische Produktion die einzige und ausschließliche Produktionsform sei. Er sagt im ersten Bande: „Es wird hier abstrahiert vom Ausfuhrhandel, vermittelst dessen eine Nation Luxusartikel in Produktions- oder Lebensmittel umsetzen kann und umgekehrt. Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat.“ (S. 544, Fußnote 2la.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 607.] Und im zweiten Bande: „Außer dieser Klasse (der Kapitalisten – R. L.) gibt es nach unsrer Unterstellung – allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion – überhaupt keine andre Klasse als die Arbeiterklasse.“ (S. 321.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 348.] Unter diesen Bedingungen gibt es freilich in der Gesellschaft nur Kapitalisten mit Anhang und Lohnproletarier, andere Schichten, andere Warenproduzenten und Konsumenten sind unerfindlich, dann steht aber die kapitalistische Akkumulation, wie ich darzulegen versucht habe, eben vor jener unlösbaren Frage, an die wir zuletzt gelangt sind.
Man kann drehen und wenden, wie man will, solange wir bei der Annahme bleiben, daß es in der Gesellschaft keine Schichten mehr gibt als Kapitalisten und Lohnarbeiter, ist es für die Kapitalisten als Gesamtklasse unmöglich, ihre überschüssigen Waren loszuwerden, um den Mehrwert zu Geld zu machen und so Kapital akkumulieren zu können.
Aber die Marxsche Annahme ist nur eine theoretische Voraussetzung für die Zwecke einer erleichterten, vereinfachten Untersuchung. In Wirklichkeit ist die kapitalistische Produktion, wie jedermann weiß und wie Marx selbst gelegentlich im „Kapital“ mit Nachdruck hervorhebt, durchaus nicht die einzige und ausschließlich herrschende. In Wirklichkeit gibt es in allen kapitalistischen Ländern, auch in denen der höchstentwickelten Großindustrie, neben kapitalistischen Unternehmungen im Gewerbe und <429> in der Landwirtschaft noch zahlreiche handwerksmäßige und bäuerliche Betriebe, die einfache Warenproduktion betreiben. In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerksmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Rußland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerksmäßigen aufweisen. Alle diese Gesellschafts- und Produktionsformen bestehen und bestanden nicht bloß im ruhigen räumlichen Nebeneinander mit dem Kapitalismus, vielmehr entwickelte sich von Anbeginn der kapitalistischen Ära zwischen ihnen und dem europäischen Kapital ein reger Stoffwechsel ganz eigener Art. Die kapitalistische Produktion ist als echte Massenproduktion auf Abnehmer aus bäuerlichen und Handwerkskreisen der alten Länder sowie auf Konsumenten aller anderen Länder angewiesen, während sie ihrerseits ohne Erzeugnisse dieser Schichten und Länder (sei es als Produktions-, sei es als Lebensmittel) technisch gar nicht auskommen kann. So mußte sich von Anfang an zwischen der kapitalistischen Produktion und ihrem nichtkapitalistischen Milieu ein Austauschverhältnis entwickeln, bei dem das Kapital sowohl die Möglichkeit fand, den eigenen Mehrwert für Zwecke weiterer Kapitalisierung in blankem Gold zu realisieren, als sich mit allerlei nötigen Waren zur Ausdehnung der eigenen Produktion zu versehen, endlich durch Zersetzung jener nichtkapitalistischen Produktionsformen immer neuen Zuzug an proletarisierten Arbeitskräften zu gewinnen.
Dies aber nur der nackte ökonomische Inhalt des Verhältnisses. Seine konkrete Gestaltung in der Wirklichkeit bildet den historischen Prozeß der Entwicklung des Kapitalismus auf der Weltbühne mit all seiner bunten und bewegten Mannigfaltigkeit.
Denn zunächst gerät der Austausch des Kapitals mit seiner nichtkapitalistischen Umgebung auf die Schwierigkeiten der Naturalwirtschaft, der gesicherten sozialen Verhältnisse und der beschränkten Bedürfnisse der patriarchalischen Bauernwirtschaft sowie des Handwerks. Hier greift das Kapital zu „heroischen Mitteln“, zur Axt der politischen Gewalt. In Europa selbst ist seine erste Geste – die revolutionäre Überwindung der feudalen Naturalwirtschaft. In den überseeischen Ländern ist die Unterjochung und Zerstörung der traditionellen Gemeinwesen die erste Tat, der <430> welthistorische Geburtsakt des Kapitals und seitdem ständige Begleiterscheinung der Akkumulation. Durch den Ruin der primitiven, naturalwirtschaftlichen, bäuerlich patriarchalischen Verhältnisse jener Länder öffnet das europäische Kapital dort dem Warenaustausch und der Warenproduktion das Tor, verwandelt ihre Einwohner in Abnehmer für kapitalistische Waren und beschleunigt zugleich gewaltig die eigene Akkumulation durch direkten massenhaften Raub an Naturschätzen und aufgespeicherten Reichtümern der unterjochten Völker. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts geht Hand in Hand mit jenen Methoden die Ausfuhr des akkumulierten Kapitals aus Europa nach den nichtkapitalistischen Ländern der anderen Weltteile, wo es auf neuem Felde, auf den Trümmern einheimischer Produktionsformen, einen neuen Kreis von Abnehmern seiner Waren und damit eine weitere Akkumulationsmöglichkeit findet.
So breitet sich der Kapitalismus dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion des Kapitals noch offenstehen, um so erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, um so mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen.
Durch diesen Prozeß bereitet das Kapital aber in zweifacher Weise seinen Untergang vor. Indem es einerseits durch seine Ausdehnung auf Kosten aller nichtkapitalistischen Produktionsformen auf den Moment lossteuert, wo die gesamte Menschheit in der Tat lediglich aus Kapitalisten und Lohnproletariern besteht und wo deshalb eben weitere Ausdehnung, also Akkumulation, unmöglich wird. Zugleich verschärft es, im Maße wie diese Tendenz sich durchsetzt, die Klassengegensätze, die internationale wirtschaftliche und politische Anarchie derart, daß es, lange bevor die letzte Konsequenz der ökonomischen Entwicklung – die absolute, ungeteilte Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Welt – erreicht ist, die Rebellion des internationalen Proletariats gegen das Bestehen der Kapitalsherrschaft herbeiführen muß.
Dies in aller Kürze das Problem und seine Lösung, wie ich sie mir denke. Auf den ersten Blick mag es als rein theoretische Tüftelei erscheinen. Und doch ist die praktische Bedeutung des Problems naheliegend. Es ist dies sein Zusammenhang mit der hervorragendsten Tatsache des heuti-<431>gen öffentlichen Lebens, mit dem Imperialismus. Die äußeren typischen Erscheinungen der imperialistischen Periode: der Wettkampf der kapitalistischen Staaten um Kolonien und Interessensphären, um Anlagemöglichkeiten für das europäische Kapital, das internationale Anleihesystem, Militarismus, Hochschutzzoll, vorherrschende Rolle des Bankkapitals und der Kartellindustrie in der Weltpolitik, sind heute allgemein bekannt. Ihre Verknüpfung mit der letzten Phase der kapitalistischen Entwicklung, ihre Bedeutung für die Akkumulation des Kapitals liegen so offen zutage, daß sie von den Trägern wie von den Gegnern des Imperialismus klar erkannt und anerkannt werden. Die Sozialdemokratie kann sich jedoch mit dieser empirischen Erkenntnis nicht begnügen. Es gilt für sie, das ökonomisch Gesetzmäßige jenes Zusammenhanges in exakter Weise aufzuspüren, die eigentliche Wurzel des großen und bunten Komplexes von Erscheinungen des Imperialismus zu packen. Denn wie stets in solchen Fällen, kann erst die exakte theoretische Erfassung des Problems an der Wurzel auch unserer Praxis im Kampfe mit dem Imperialismus jene Sicherheit, Zielklarheit und Schlagkraft verleihen, die für die Politik des Proletariats unerläßlich sind. Vor dem Erscheinen des Marxschen „Kapitals“ waren die Tatsachen der Ausbeutung, der Mehrarbeit, des Profits wohlbekannt. Aber erst die exakte Theorie des Mehrwertes und seiner Bildung, des Lohngesetzes und der industriellen Reservearmee, wie sie Marx auf seiner Werttheorie aufgebaut hat, haben der Praxis des Klassenkampfes die eherne Basis gegeben, auf der sich die deutsche und in ihren Fußtapfen die internationale Arbeiterbewegung bis zum Weltkriege entwickelten. Daß die Theorie allein es nicht tut, daß man mitunter mit der besten Theorie die schofelste Praxis verbinden kann, beweist gerade der heutige Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie. Aber dieser Zusammenbruch ergab sich nicht infolge, sondern trotz der Marxschen theoretischen Erkenntnis, und er kann nur dann und nur dadurch überwunden werden, daß die Praxis der Arbeiterbewegung in Einklang mit ihrer Theorie gebracht wird. Und wie im ganzen und allgemeinen, so können wir auf jedem wichtigeren Teilgebiete des Klassenkampfes nur aus der Marxschen Theorie, aus den vielen ungehobenen Schätzen der Marxschen Fundamentalwerke eine ganz feste Grundlage unserer Position gewinnen.
Daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß, unterliegt keinem Zweifel, da der Imperialismus im ganzen schon nach allgemeiner empirischer Wahrnehmung nichts anderes als eine spezifische Methode der Akkumulation ist. Wie ist <432> dies aber möglich, solange man kritiklos an der Marxschen Voraussetzung im zweiten Bande des „Kapitals“ festhält, die auf eine Gesellschaft zugeschnitten ist, in der die kapitalistische Produktion die einzige ist, in der die ganze Bevölkerung lediglich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht?
Wie man auch die inneren ökonomischen Triebfedern des Imperialismus näher bestimmen mag, soviel ist jedenfalls klar und allgemein bekannt: Sein Wesen besteht gerade in der Ausbreitung der Kapitalsherrschaft aus alten kapitalistischen Ländern auf neue Gebiete und im wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzkampf jener Länder um solche Gebiete. Marx nimmt aber, wie wir gesehen, im zweiten Bande seines „Kapitals“ an, die ganze Welt sei bereits „eine kapitalistische Nation“, alle anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen seien bereits verschwunden. Wie kann man nun den Imperialismus in einer solchen Gesellschaft erklären, wo doch für ihn gar kein Raum mehr vorhanden ist?
Hier glaubte ich die Kritik einsetzen zu müssen. Die theoretische Annahme einer lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft, die an sich für bestimmte Zwecke der Untersuchung – so im ersten Bande des „Kapitals”, bei der Analyse des Einzelkapitals und seiner Ausbeutungspraktiken in der Fabrik – vollkommen berechtigt und am Platze ist, schien mir unangebracht und störend, wo es sich um die Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals handelt. Da diese den wirklichen historischen Prozeß der kapitalistischen Entwicklung darstellt, kann man sie meines Erachtens unmöglich erfassen, wenn man von allen Bedingungen dieser geschichtlichen Wirklichkeit absieht. Die Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß arbeitet sich vom ersten bis zum letzten Tage mitten in einem Milieu verschiedener vorkapitalistischer Formationen vorwärts, im stetigen politischen Kampfe und in unaufhörlichen ökonomischen Wechselwirkungen mit ihnen. Wie kann man also diesen Prozeß und seine inneren Bewegungsgesetze in einer blutleeren theoretischen Fiktion richtig erfassen, die dieses ganze Milieu, diesen Kampf und diese Wechselwirkungen für nicht existierend erklärt?
Gerade hier scheint mir ganz im Geiste der Marxschen Theorie notwendig, die Voraussetzung des ersten Bandes des „Kapitals“, die dort vortreffliche Dienste leistete, nunmehr aufzugeben und die Untersuchung der Akkumulation als Gesamtprozeß auf die konkrete Basis des Stoffwechsels zwischen dem Kapital und seiner historischen Umgebung zu stellen. Tut man das, dann ergibt sich m. E. die Erklärung des Prozesses gerade aus den Marxschen Grundlehren und in völligem Einklang mit den übrigen Teilen seines ökonomischen Hauptwerkes in ungezwungener Weise.
<433> Marx selbst hat die Frage der Akkumulation des Gesamtkapitals nur gestellt, aber nicht mehr beantwortet. Er hat zwar als Voraussetzung seiner Analyse zunächst jene rein kapitalistische Gesellschaft genommen, hat aber die Analyse auf dieser Grundlage nicht nur nicht zu Ende geführt, sondern er hat sie gerade bei dieser Kardinalfrage abgebrochen. Er hat zur Veranschaulichung seiner Auffassung einige mathematische Schemata aufgestellt, aber ihre Deutung auf soziale praktische Möglichkeiten und ihre Nachprüfung von diesem Standpunkt kaum begonnen, als ihm durch Krankheit und Tod die Feder aus der Hand fiel.[8] Die Lösung dieses wie manches anderen Problems war offenbar für seine Schüler übriggeblieben, und meine „Akkumulation“ sollte ein Versuch nach dieser Richtung sein.
Die von mir unterbreitete Lösung mochte man nun für richtig oder falsch ansehen, sie kritisieren, anfechten, ergänzen, eine andere Lösung aufzeigen. Nichts von alledem geschah. Es erfolgte etwas ganz Unerwartetes: Die „Sachverständigen“ erklärten, es gäbe überhaupt kein Problem, das zu lösen wäre! Die Marxschen Darlegungen im zweiten Bande des „Kapitals“ seien eine ausreichende und erschöpfende Erklärung der Akkumulation, dort sei eben durch die Schemata klipp und klar nachgewiesen, daß das Kapital ausgezeichnet wachsen, die Produktion sich ausdehnen könne, wenn in der Welt keine andere als die kapitalistische existierte; sie sei für sich selbst Absatzmarkt, und nur meine totale Unfähigkeit, das Abc der Marxschen Schemata zu begreifen, konnte mich dazu verleiten, hier ein Problem zu erblicken!
Man bedenke:
Zwar dauern in der Nationalökonomie Kontroversen um das Problem der Akkumulation, um die Möglichkeit der Realisierung des Mehrwertes seit einem Jahrhundert: in den zwanziger Jahren in den Auseinandersetzungen Sismondis mit Say, Ricardo, MacCulloch, in den fünfziger Jahren zwischen Rodbertus und v. Kirchmann, in den achtziger und neunziger Jahren zwischen den russischen „Volkstümlern“[9] und Marxisten. Die hervorragendsten Theoretiker der Nationalökonomie in Frankreich, England, Deutschland, Rußland haben die Fragen immer wieder ventiliert, und zwar vor wie nach dem Erscheinen des Marxschen „Kapitals“. Das Problem ließ die Forscher nicht in Ruhe überall, wo unter dem Anstoß einer <434> scharfen sozialen Kritik reges geistiges Leben in der Nationalökonomie pulsierte.
Zwar ist der zweite Band des „Kapitals“ nicht etwa ein abgeschlossenes Werk, wie der erste, sondern nur ein Torso, eine lose Zusammenstellung mehr oder weniger fertiger Fragmente und Entwürfe, wie sie ein Forscher zur eigenen Selbstverständigung niederschreibt, deren Ausarbeitung aber immer wieder durch Krankheitszustände behindert und unterbrochen wurde. Speziell die Analyse der Akkumulation des Gesamtkapitals, auf die es hier ankommt, ist, als letztes Kapitel des Manuskripts, am schlechtesten weggekommen: Sie umfaßt von dem 450 Seiten zählenden Bande nur knappe 35 Seiten und bricht mitten im Worte ab.
Zwar schien dieser letzte Abschnitt des Bandes nach dem Engelsschen Zeugnis Marx selbst „einer Umarbeitung dringend bedürftig“ und ist nach demselben Zeugnis „nur eine vorläufige Behandlung des Gegenstands“[10] geblieben. Wie denn Marx im Verlaufe seiner Analyse das Problem der Realisierung des Mehrwertes bis zu Ende des Manuskripts immer wieder wälzte, seine Zweifel in immer neuer Form erhob und dadurch schon die Schwierigkeit des Problems selbst bezeugte.
Zwar ergeben sich zwischen den Voraussetzungen des kurzen Fragments am Schlusse des zweiten Bandes, wo Marx die Akkumulation behandelt, und den Darlegungen des dritten Bandes, wo er die „Gesamtbewegung des Kapitals“[11] schildert, sowie mehreren wichtigen Gesetzen des ersten Bandes klaffende Widersprüche, auf die ich in meinem Buche eingehend hinweise.
Zwar zeigt sich der ungestüme Drang der kapitalistischen Produktion nach nichtkapitalistischen Ländern seit ihrem ersten Auftreten auf der historischen Bühne, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre ganze Entwicklung, nimmt an Bedeutung immer mehr zu, bis er seit einem Vierteljahrhundert, in der Phase des Imperialismus, geradezu als bestimmender und beherrschender Faktor des gesellschaftlichen Lebens auftritt.
Zwar weiß jedermann, daß es ein Land, wo ausschließlich kapitalistische Produktion, wo nur Kapitalisten und Lohnarbeiter vorhanden wären, bis jetzt noch nie gegeben hat und heute nirgends gibt. Die Gesellschaft, auf die die Voraussetzungen des zweiten Bandes des „Kapitals“ zugeschnitten sind, existiert nirgends in der realen Wirklichkeit.
Und trotz alledem erklären die offiziellen „Sachverständigen“ des Mar-<435>xismus: ein Problem der Akkumulation gebe es nicht, alles sei schon bei Marx endgültig gelöst! Die merkwürdige Voraussetzung der Akkumulation im zweiten Bande hat sie nie gestört, sie hatten sie überhaupt gar nicht als etwas Besonderes bemerkt! Und jetzt, auf jenen Umstand aufmerksam gemacht, finden sie gerade diese Merkwürdigkeit ganz in der Ordnung, klammern sich hartnäckig an diese Vorstellung und schlagen wütend nach demjenigen, der ein Problem sehen will, wo der offizielle Marxismus jahrzehntelang nichts als Wohlgefallen an sich selbst empfunden hat!
Das ist ein so krasser Fall des Epigonentums, daß er nur in einem anekdotischen Vorkommnis aus den Kreisen des Zopfgelehrtentums seine Parallele findet: in der bekannten Geschichte der sogenannten „Blattversetzung“ der Kantschen „Prolegomena“.
Ein Jahrhundert lang stritt man sich in der philosophischen Welt heftig um die mannigfachen Rätsel der Kantschen Lehre und insbesondere auch der „Prolegomena“, es bildeten sich bei Deutung der Kantschen Lehre ganze Schulen, die einander in den Haaren lagen. Bis Professor Vaihinger wenigstens der dunkelsten dieser Rätsel eines in der einfachsten Weise von der Welt aufklärte, indem er darauf hinwies, daß ein Teil des Paragraphen 4 der „Prolegomena“, der zu dem übrigen Text des Kapitels in der Tat wie die Faust aufs Auge paßt, in den Paragraphen 2 gehöre, von dem er nur durch einen Druckfehler der Originalausgabe abgelöst und an eine falsche Stelle gebracht worden sei.[12] Jedem schlichten Leser der Schrift leuchtet heute die Sache auch sofort ein. Nicht so dem Zunftgelehrten, der ein Jahrhundert lang tiefsinnige Theorien auf einem Druckfehler aufbaute. Es fand sich auch richtig ein schwergelehrter Mann und Professor in Bonn, der in vier Artikeln der „Philosophischen Monatshefte“ empört nachwies, daß die „angebliche Blattversetzung“ gar nicht existiere, daß gerade mit dem Druckfehler der einzig richtige und unverfälschte Kant zum Ausdruck komme und daß, wer da Druckfehler aufzuspüren sich erdreiste, nicht die Bohne von Kants Philosophie begriffen habe.[13]
So ungefähr halten heute die „Sachverständigen“ an der Voraussetzung des zweiten Bandes des Marxschen „Kapitals“ und an den auf ihr errichteten mathematischen Schemata fest. Der Hauptzweifel meiner Kritik richtet sich darauf, daß mathematische Schemata in der Frage der Akkumulation überhaupt nichts beweisen können, da ihre historische Voraussetzung unhaltbar sei. Zur Antwort sagt man mir: Aber die Schemata lösen <436> sich doch glatt auf, also sei das Problem der Akkumulation gelöst, es existiere gar nicht!
Hier ein Beispiel des orthodoxen Kultus der Formeln.
Otto Bauer geht in der „Neuen Zeit“ an die Untersuchung der von mir gestellten Frage: wie wird der Mehrwert realisiert, in folgender Weise.[14] Er konstruiert vier große Zahlentabellen, in denen ihm sogar lateinische Buchstaben, wie sie Marx zur abgekürzten Bezeichnung des konstanten und variablen Kapitals gebrauchte, nicht genügen. Bauer fügt noch einige griechische Buchstaben hinzu. Seine Tabellen sehen dadurch noch abschreckender aus als alle Schemata im Marxschen „Kapital“. Mit diesem Apparat will er nun zeigen, wie die Kapitalisten nach Erneuerung des verbrauchten Kapitals jenen Warenüberschuß absetzen, in dem ihr zur Kapitalisierung bestimmter Mehrwert steckt: „Überdies aber (nach dem Ersatz der alten Produktionsmittel – R. L.) wollen die Kapitalisten den von ihnen im ersten Jahre akkumulierten Mehrwert zur Erweiterung der bestehenden oder zur Gründung neuer Betriebe verwenden. Wollen sie im nächsten Jahr ein um 12 500 vergrößertes Kapital verwenden, so müssen sie schon heuer neue Arbeitsräume bauen, neue Maschinen kaufen, ihren Vorrat an Rohstoffen vermehren usw. usw.“ (Neue Zeit, 1913, Nr. 24, S. 863.)
So wäre das Problem gelöst. „Wollen die Kapitalisten“ ihre Produktion erweitern, dann brauchen sie natürlich selbst mehr Produktionsmittel als bisher und sind so wechselseitig ihre eigenen Abnehmer. Zugleich brauchen sie alsdann mehr Arbeiter und für diese Arbeiter mehr Lebensmittel, die sie ja gleichfalls selbst herstellen. Damit ist der ganze Überschuß an Produktions- und Lebensmitteln untergebracht, und die Akkumulation kann losgehen. Wie man sieht, kommt alles darauf an, ob die Kapitalisten eine Produktionserweiterung vornehmen „wollen“. Und warum sollten sie das nicht? Ei freilich „wollen sie“! „Somit ist der ganze Produktionswert beider Sphären, also auch der ganze Mehrwert realisiert”, erklärt Bauer siegreich, und er zieht daraus den Schluß:
„In gleicher Weise kann man sich an der Hand der Tabelle IV überzeugen, daß nicht nur im ersten, sondern auch in jedem folgenden Jahre der gesamte Produktionswert beider Sphären ohne Störung abgesetzt, der gesamte Mehrwert realisiert wird. Die Annahme der Genossin Luxemburg, daß der akkumulierte Mehrwertteil nicht realisiert werden könne, ist also falsch.“ (1. c„ S. 866.) [Hervorhebung – R. L.]
<437> Bauer hat bloß nicht bemerkt, daß es, um zu diesem glänzenden Resultat zu gelangen, gar nicht so langer und eingehender Berechnungen mit vier Tabellen, mit breiten und länglichen, eiförmig eingeklammerten und vierstöckigen Formeln bedurft hätte. Das Resultat, zu dem Bauer gelangt, ergibt sich nämlich gar nicht aus seinen Tabellen, sondern es wird einfach von ihm als gegeben angenommen. Bauer setzt das, was zu beweisen war, einfach voraus, darin besteht seine ganze „Beweisführung“.
Wenn die Kapitalisten die Produktion erweitern wollen, und zwar fast um so viel, wie sie an zuschüssigem Kapital besitzen, dann brauchen sie nur dieses zuschüssige Kapital in ihre eigene Produktion zu stecken (vorausgesetzt freilich, daß sie gerade alle benötigten Produktions- und Lebensmittel selbst herstellen!), und dann bleibt ihnen kein unverkäuflicher Überschuß an Waren übrig; kann es etwas Einfacheres geben, und braucht man irgendwelchen Formelkram mit lateinischen und griechischen Buchstaben, um etwas so Selbstverständliches noch zu „beweisen“?
Aber es kam ja darauf an, ob die Kapitalisten, die sicher immer akkumulieren „wollen“, es auch können, d. h„ ob sie für eine erweiterte Produktion einen fortschreitend erweiterten Absatzmarkt finden und wo sie ihn finden? Und darauf können keine arithmetischen Operationen mit fingierten Zahlen auf dem Papier Antwort geben, sondern nur die Analyse der ökonomischen gesellschaftlichen Zusammenhänge der Produktion.
Fragt man die „Sachverständigen“: „Ja, daß die Kapitalisten die Produktion erweitern ,wollen‘, ist schön und gut, aber an wen werden sie dann ihre erweiterte Warenmenge verkaufen?“ so antworten sie: „Die Kapitalisten werden eben immer wieder selbst diese wachsenden Warenmengen für ihre Betriebe abnehmen, weil sie ja die Produktion immer wieder erweitern ,wollen‘.“
„Und wer die Produkte kauft, das zeigen eben die Schemata“, erklärt lapidar der „Vorwärts“-Rezensent, G. Eckstein.[15]
Kurz und gut: Die Kapitalisten erweitern eben jedes Jahr gerade um so viel die Produktion, wie sie an Mehrwert „aufgespart“ haben, sie sind ihre eigenen Abnehmer, und deshalb bereitet ihnen der Absatzmarkt gar keine Sorgen. Diese Behauptung ist der Ausgangspunkt der ganzen „Beweisführung“. Eine solche Behauptung bedarf aber gar keiner mathematischen Formulierung und kann durch eine solche absolut nicht bewiesen werden. Die naive Vorstellung selbst, als ob mathematische Formeln hier <438> die Hauptsache, die ökonomische Möglichkeit einer derartigen Akkumulation beweisen könnten, ist das ergötzlichste Quiproquo der „sachverständigen“ Hüter des Marxismus und genügt an sich, um Marx sich im Grabe umdrehen zu lassen.
Marx selbst fiel es nicht im Traume ein, seine eigenen mathematischen Schemata etwa als Beweis auszugeben, daß die Akkumulation bloß in einer aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft tatsächlich möglich sei. Marx untersuchte den inneren Mechanismus der kapitalistischen Akkumulation und stellte bestimmte ökonomische Gesetze auf, auf denen der Prozeß beruht. Er führte ungefähr aus: Soll die Akkumulation des Gesamtkapitals, also bei der ganzen Klasse der Kapitalisten, stattfinden, dann müssen zwischen den beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion: der Herstellung der Produktionsmittel und der Herstellung der Lebensmittel, gewisse ganz genaue quantitative Beziehungen bestehen. Nur wenn solche Beziehungen eingehalten werden, so daß die eine große Abteilung der Produktion der andern ständig in die Hände arbeitet, könne die fortschreitende Erweiterung der Produktion und zugleich – was der Zweck des ganzen – die aus ihr entspringende fortschreitende Anhäufung von Kapital in beiden Abteilungen ungestört vor sich gehen. Um diesen seinen Gedanken klar und deutlich darzulegen und genau zu fassen, entwirft Marx ein mathematisches Beispiel, ein Schema mit erdachten Zahlen, an deren Hand er zeigt, soundso müßten sich die einzelnen Positionen des Schemas (konstantes Kapital, variables Kapital, Mehrwert) zueinander verhalten, wenn die Akkumulation vor sich gehen soll.
Man verstehe also wohl: Die mathematischen Schemata sind für Marx Beispiel, Illustration seiner ökonomischen Gedanken, wie das „Tableau économique“ Quesnays für dessen Theorie eine war oder wie z. B. die Weltkarten aus verschiedenen Zeitaltern Illustration der jeweilig herrschenden astronomischen und geographischen Vorstellungen sind. Ob die von Marx aufgestellten oder, richtiger, fragmentarisch angedeuteten Gesetze der Akkumulation richtig sind, kann offenbar nur die ökonomische Analyse selbst beweisen, ihr Vergleich mit anderen von Marx aufgestellten Gesetzen, die Überlegung verschiedener Konsequenzen, zu denen sie führen, die Nachprüfung der Voraussetzungen, von denen sie ausgehen u. dgl. Was soll man aber von „Marxisten“ denken, die jede derartige Kritik als ein hirnverbranntes Unternehmen ablehnen, weil die Richtigkeit der Gesetze durch die mathematischen Schemata bewiesen sei! Ich äußere Zweifel darüber, ob in einer lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft, wie sie den Marxschen Schemata zugrunde liegt, <439> die Akkumulation vor sich gehen könne, und stelle die Meinung auf, daß die kapitalistische Produktionsentwicklung im ganzen sich überhaupt nicht in ein schematisches Verhältnis zwischen rein kapitalistischen Betrieben einschließen lasse. Darauf antworten die „Sachverständigen“: Aber gewiß ist das möglich! Das läßt sich ja glänzend beweisen „an der Hand der Tabelle IV“, „das zeigen eben die Schemata“ – d. h. die Tatsache, daß sich die zur Illustration ausgedachten Zahlenreihen auf dem Papier widerstandslos addieren und subtrahieren lassen!
Im Altertum glaubte man an die Existenz von allerlei Fabelwesen: Zwergen, Menschen mit einem Auge, mit einem Arm und Bein und dgl. mehr. Zweifelt jemand vielleicht, daß es solche Wesen wirklich ehemals gegeben hat? Aber wir sehen sie ja genau eingezeichnet auf alten Weltkarten. Ist das nicht ein Beweis, daß jene Vorstellungen der Alten genau der Wirklichkeit entsprachen?
Doch nehmen wir ein trockenes Beispiel.
Für den geplanten Bau einer Eisenbahn von der Stadt X nach der Stadt Y wird ein Kostenplan aufgestellt und in genauen Zahlen berechnet, wie groß der jährliche Personen- und Güterverkehr sein müßte, damit außer der Amortisation, den laufenden Betriebskosten und den üblichen „Rücklagen“ eine „angemessene“ Dividende, sagen wir erst von 5 Prozent, dann von 8 Prozent, ausgeschüttet werden könne. Für die Gründer der Eisenbahngesellschaft handelt es sich natürlich vor allem um die Frage, ob tatsächlich auf der vorgesehenen Strecke der Personen- und Frachtverkehr zu erwarten ist, der die im Kostenplan in Rechnung gebrachte Rentabilität sichern soll. Um diese Frage zu beantworten, sind offenbar genaue Unterlagen über den bisherigen Verkehr der Strecke, über ihre Bedeutung für Handel und Industrie, über das Wachstum der Bevölkerung der an ihr gelegenen Städte und Dörfer und andere Dinge der ökonomischen und sozialen Verhältnisse notwendig. Was würde man nun zu einem Menschen sagen, der ausrufen wollte: Sie fragen, woraus sich die Rentabilität der Strecke ergibt? Aber ich bitte Sie, das zeigt doch aber gerade schwarz auf weiß der Kostenplan. Dort steht doch zu lesen, daß es der Personen- und Frachtverkehr ist und daß aus diesen Einnahmen sich erst eine fünfprozentige, dann eine achtprozentige Dividende ergeben wird. Wenn Sie das nicht einsehen, meine Herren, dann haben Sie eben Wesen, Zweck und Bedeutung des Kostenplanes völlig mißverstanden![16]
<440> Im Kreise nüchterner Menschen würde man dem Besserwisser wahrscheinlich achselzuckend bedeuten, daß er ins Narrenhaus oder in die Kinderstube gehöre. Im Kreise der offiziellen Hüter des Marxismus bilden solche Besserwisser den Areopag der „Sachverständigen”, die anderen Leuten Zensuren erteilen, ob sie „Wesen, Zweck und Bedeutung der Marxschen Schemata” verstanden oder mißverstanden haben.
Was ist nun der Kernpunkt der Auffassung, den die Schemata angeblich „beweisen”? Ich hatte den Einwand gemacht, zur Akkumulation gehört die Möglichkeit, in steigendem Maße Waren abzusetzen, um den darin enthaltenen Profit in Geld zu verwandeln. Erst dann ist fortschreitende Erweiterung der Produktion, also fortschreitende Akkumulation möglich. Wo finden die Kapitalisten als Gesamtklasse diesen steigenden Absatz? Darauf antworten meine Kritiker: Sie bilden diesen Absatzmarkt selbst. Indem sie die eigenen Betriebe immer mehr erweitern (oder neue gründen), brauchen sie eben selbst immer mehr Produktionsmittel für ihre Fabriken und Lebensmittel für ihre Arbeiter. Die kapitalistische Produktion ist sich selbst Absatzmarkt, dieser wächst also automatisch mit dem Wachstum der Produktion. Die Hauptfrage vom Kapitalstandpunkte ist aber: Kann auf diese Weise kapitalistischer Profit erzielt oder angesammelt werden? Nur dann könnte von Kapitalakkumulation die Rede sein.
Nehmen wir wiederum ein einfaches Beispiel: Kapitalist A produziert Kohle, Kapitalist B fabriziert Maschinen, Kapitalist C stellt Lebensmittel her. Mögen uns diese drei Personen die Gesamtheit der kapitalistischen Unternehmer vorstellen. Wenn B immer mehr Maschinen herstellt, kann A ihm immer mehr Kohle verkaufen und kann ihm deshalb immer mehr Maschinen abnehmen, die er im Bergbau verwendet. Beide brauchen immer mehr Arbeiter, und diese immer mehr Lebensmittel, also findet auch C immer größeren Absatz und wird dadurch seinerseits immer mehr Abnehmer sowohl für Kohle wie für Maschinen, die er für seinen Betrieb benötigt. So geht die Sache im Kreise und steigert sich immer mehr – solange wir in leerer Luft mit der Stange herumfahren. Fassen wir aber die Sache etwas konkreter.
Kapital akkumulieren heißt nicht immer größere Berge von Waren herstellen, sondern immer mehr Waren in Geldkapital verwandeln. Zwischen der Anhäufung des Mehrwertes in Waren und der Anwendung dieses Mehrwertes zur Erweiterung der Produktion liegt jedesmal ein entscheidender Sprung, der Salto mortale der Warenproduktion, wie ihn Marx nennt: der Verkauf gegen Geld. Hat dies vielleicht nur für den Einzelkapitalisten Geltung, nicht aber für die Gesamtklasse, für die Gesellschaft <441> im ganzen? Durchaus nicht. Denn bei gesellschaftlicher Betrachtung der Dinge „muß man“, sagt Marx, „nicht in die von Proudhon der bürgerlichen Ökonomie nachgemachte Manier verfallen und die Sache so betrachten„ als wenn eine Gesellschaft kapitalistischer Produktionsweise, en bloc, als Totalität betrachtet, diesen ihren spezifischen, historisch ökonomischen Charakter verlöre. Umgekehrt. Man hat es dann mit dem Gesamtkapitalisten zu tun.“ (Kapital, Bd. II, S. 409.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 431.1 Nun ist die Anhäufung des Profits als Geldkapital gerade ein spezifischer und ganz wesentlicher Charakter der kapitalistischen Produktion und gilt für die Klasse so gut wie für den einzelnen Unternehmer. Marx unterstreicht auch selbst gerade bei Betrachtung der Akkumulation des Gesamtkapitals „die die wirkliche Akkumulation begleitende und bei kapitalistischer Produktion sie bedingende Bildung von neuem Geldkapital.“ [Hervorhebung – R. L.] (Kapital, Bd. II, S. 485.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 503.] Und er kehrt im Laufe seiner Untersuchung immer wieder zu der Frage zurück: Wie ist Akkumulation von Geldkapital bei der Klasse der Kapitalisten möglich?
Prüfen wir nun von diesem Standpunkte die geistreiche Auffassung der „Sachverständigen“ nach. Kapitalist A verkauft seine Waren an B, erhält also einen Mehrwert in Geld von B. Dieser verkauft seine Waren an A und erhält zur Vergoldung des eigenen Mehrwerts das Geld wieder von A zurück. Beide verkaufen ihre Waren an C und bekommen also auch für ihren Mehrwert die Geldsumme von demselben C. Dieser aber woher? Von A und B. Andere Quellen zur Realisierung des Mehrwerts, d. h. andere Konsumenten der Waren, gibt es ja nach der Voraussetzung nicht. Kann nun aber auf diese Weise Bereicherung des A, B und C in Bildung neuen Geldkapitals bei ihnen stattfinden? Nehmen wir für einen Augenblick an, die zum Austausch bestimmten Warenmassen wachsen bei allen dreien, die Erweiterung der Produktion fände ungestört statt und damit mögen die in Waren dargestellten Mehrwertmassen wachsen. Die Ausbeutung sei vollzogen, die Möglichkeit der Bereicherung, der Akkumulation, sei da. Damit aber die Möglichkeit zur Wirklichkeit wird, ist der Austausch, die Realisierung des gewachsenen neuen Mehrwerts in gewachsenem neuem Geldkapital nötig. Wohlgemerkt, wir fragen hier nicht, wie Marx mehrmals im Laufe des zweiten Bandes des „Kapitals“: Wo kommt das Geld zur Zirkulation des Mehrwertes her?, um darauf schließlich zu antworten: vom Goldgräber. Wir fragen vielmehr: Wie kommt <442> neues Geldkapital in die Taschen der Kapitalisten hinein, da sie (abgesehen von den Arbeitern) die einzigen Warenabnehmer füreinander sind? Das Geldkapital wandert ja hier beständig aus einer Tasche in die andere.
Aber wiederum: Vielleicht gehen wir mit solchen Fragen ganz in die Irre? Vielleicht besteht Profitansammeln gerade in diesem Prozeß des beständigen Wanderns der Goldfüchse aus einer Kapitalistentasche in die andere, in der sukzessiven Realisierung von Privatprofiten, wobei die Gesamtsumme des Geldkapitals gar nicht zu wachsen brauche, da es so etwas wie den „Gesamtprofit“ aller Kapitalisten gar nicht gebe, außer in der grauen Theorie?
Aber – o weh! – mit einer solchen Annahme würden wir den dritten Band des Marxschen „Kapitals“ einfach ins Feuer werfen. Denn hier steht im Mittelpunkt, als eine der wichtigsten Entdeckungen der Marxschen ökonomischen Theorie, die Lehre von dem Durchschnittsprofit. Dies gibt der Werttheorie des ersten Bandes erst realen Sinn; auf letzterer fußt wiederum die Mehrwerttheorie und der zweite Band, und so würden auch diese Bände ins Feuer wandern. Die Marxsche ökonomische Theorie steht und fällt mit der Auffassung vom gesellschaftlichen Gesamtkapital als einer realen wirklichen Größe, die gerade in dem kapitalistischen Gesamtprofit und seiner Verteilung den handgreiflichen Ausdruck findet und von deren unsichtbarer Bewegung alle sichtbaren Bewegungen der Einzelkapitale herrühren. Der kapitalistische Gesamtprofit ist in der Tat eine viel realere ökonomische Größe als z. B. die jeweilige Gesamtsumme der gezahlten Arbeitslöhne. Kommt doch diese letztere nur durch Zusammenrechnung für eine Zeitperiode hinterher als statistische Zahl zustande, während der Gesamtprofit sich umgekehrt im wirtschaftlichen Getriebe als Ganzes geltend macht, indem er durch die Konkurrenz und Preisbewegung alle Augenblicke zur Verteilung unter die Einzelkapitale als der „landesübliche“ Durchschnittsprofit oder als Extraprofit kommt.
Es bleibt also schon dabei: Das gesellschaftliche Gesamtkapital erzielt ständig, und zwar in Geldform, einen Gesamtprofit, der zu Zwecken der Gesamtakkumulation ständig wachsen muß. Wie kann nun die Summe wachsen, wenn die Teile nur aus einer Tasche in die andere immer im Kreise wandern?
Scheinbar kann dabei – wie wir es bis jetzt angenommen haben – wenigstens die Gesamtwarenmasse, in der der Profit verkörpert ist, wachsen, und nur die Geldbeschaffung bereitet eine Schwierigkeit, was vielleicht nur eine technische Frage der Geldzirkulation ist. Aber auch dies nur scheinbar, bei oberflächlicher Betrachtung. Auch die Gesamtwarenmasse <443> wird gar nicht wachsen, die Produktionserweiterung gar nicht stattfinden können, da für sie kapitalistisch schon beim ersten Schritt die Umwandlung in Geld, die allseitige Realisierung des Profits Vorbedingung ist. A kann an B, B an C und C wieder an A und B nur in dem Falle steigende Warenmassen verkaufen und Profit realisieren, wenn wenigstens einer von ihnen schließlich außerhalb des geschlossenen Kreises Absatz findet. Ist dies nicht der Fall, dann wird das Karussell schon nach ein paar Umdrehungen kreischend zum Stillstand kommen.
Von hier aus würdige man nun die Gedankentiefe meiner „sachverständigen“ Kritiker, wenn sie mir zurufen:
„Wenn also die Genossin Luxemburg fortfährt: ,Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität!‘ – so ist schwer zu ergründen, wie diese Worte auf die Marxschen Schemata angewendet werden sollen. Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist der Profit, und dieser ergibt sich aus dem geschilderten Vorgang für die Kapitalisten, dieser ist daher vom kapitalistischen Standpunkt nichts weniger als eine Absurdität, er ist vielmehr gerade von diesem Standpunkt die Verkörperung der Vernunft, d. h. des Profitstrebens.“ (G. Eckstein, „Vorwärts“-Rezension vom 16. Februar 1913, Beilage.)
Es ist in der Tat „schwer zu ergründen“, was hier größer ist: die naiv eingestandene völlige Unfähigkeit, sich in die Marxsche Grundtheorie des gesellschaftlichen Gesamtkapitals im Unterschied vom Einzelkapital hineinzudenken, oder die völlige Verständnislosigkeit für die von mir gestellte Frage. Ich sage: Das Produzieren in immer größerem Umfange um des Produzierens willen sei vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität, weil dabei – unter den Voraussetzungen, an die sich die „Sachverständigen“ klammern – für die Gesamtklasse der Kapitalisten unmöglich Profit realisiert, also auch akkumuliert werden könne. Darauf antwortet man mir: Das ist doch aber gar nicht absurd, denn dabei wird ja Profit akkumuliert! Und woher wissen Sie das, Sachverständiger? Nun, daß Profit in Wirklichkeit akkumuliert wird, das „ergibt sich“ eben – aus den mathematischen Schemata! Aus jenen Schemata, in denen wir souverän mit Tinte auf Papier Zahlenreihen unter Zahlenreihen hinschreiben, mit denen mathematische Operationen tadellos verlaufen und in denen – vom Geldkapital ganz abgesehen wird!
Es ist klar: Jede Kritik muß an dieser robusten „Sachverständigkeit“ <444> hoffnungslos zerschellen, weil die „Sachverständigen“ einfach an dem Standpunkt des Einzelkapitalisten haften, der zwar für die Analyse des Ausbeutungs-, d. h. des Produktionsprozesses, also zum Verständnis des ersten Bandes des „Kapitals“ einigermaßen ausreicht, für die Zirkulation und Reproduktion des Kapitals hingegen völlig verfehlt ist. Der zweite und dritte Band des Marxschen „Kapitals“, die der Grundgedanke des gesellschaftlichen Gesamtkapitals durchleuchtet, sind für sie totes Kapital geblieben, in dem sie Buchstaben, Formeln, „Schemata“ gelernt, den Geist nicht bemerkt haben. Marx selbst war jedenfalls kein „Sachverständiger“. Denn ohne sich bei dem arithmetischen „Vorgang” seiner Schemata zu beruhigen, stellt er immer wieder die Frage: Wie ist allgemeine Akkumulation, wie ist Bildung von neuem Geldkapital bei der Klasse der Kapitalisten möglich? Es war seit jeher den Epigonen vorbehalten, befruchtende Hypothesen des Meisters in starres Dogma zu verwandeln und satte Beruhigung zu finden, wo ein bahnbrechender Geist schöpferische Zweifel empfand.
Der Standpunkt der „Sachverständigen“ führt nun aber zu einer Reihe interessanter Konsequenzen, die weiter durchzudenken sie sich offenbar nicht die Mühe genommen haben.
Erste Konsequenz. Wenn die kapitalistische Produktion für sich selbst schrankenlose Abnehmerin, d. h. Produktion und Absatzmarkt identisch sind, dann werden Krisen als periodische Erscheinung völlig unerklärlich. Da die Produktion, „wie die Schemata zeigen“, beliebig akkumulieren kann, indem sie ihren eigenen Zuwachs wieder zur neuen Erweiterung verwendet, so ist rätselhaft, wie und warum Zustände entstehen können, wobei die kapitalistische Produktion keinen genügenden Absatz für ihre Waren findet. Braucht sie doch, nach dem Rezept der „Sachverständigen“, die überschüssigen Waren nur selbst zu schlucken, in die Produktion (teils als Produktionsmittel, teils als Lebensmittel für die Arbeiter) zu stecken, „und ebenso in jedem folgenden Jahr“, wie „die Tabelle IV“ Otto Bauers zeigt. Der unverdauliche Warenrest würde sich dann im Gegenteil in neuen Segen der Akkumulation und Profitmacherei verwandeln. Jedenfalls verwandelt sich die spezifische Marxsche Auffassung der Krise, wonach diese sich aus der Tendenz des Kapitals ergibt, über jede gegebene Marktschranke in immer kürzerer Zeit hinauszuwachsen, in eine Absurdität. Denn wie könnte in der Tat die Produktion über den Markt hinauswachsen, da sie ja selbst der Markt für sich ist, der Markt also stets von selbst, automatisch, ebensoschnell wächst wie die Produktion? Wie könnte, mit anderen Worten, die kapitalistische Produktion periodisch <445> über sich selbst hinauswachsen? Sie könnte es so gut, wie jemand über den eigenen Schatten springen kann. Die kapitalistische Krise wird ein unerklärliches Phänomen. Oder es bleibt dann für sie nur eine Erklärung übrig: Die Krise ergibt sich nicht aus dem Mißverhältnis zwischen Ausdehnungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion und Ausdehnungsfähigkeit des Absatzmarktes, sondern lediglich aus Disproportionalität zwischen verschiedenen Zweigen der kapitalistischen Produktion. Diese könnten an sich schon genügende Warenabnehmer füreinander sein, bloß sei von verschiedenen Dingen, infolge der Anarchie, nicht die richtige Proportion, von den einen zuviel, von den anderen zuwenig hergestellt worden. Damit kehrten wir Marx den Rücken und landeten letzten Endes bei dem von Marx so weidlich verspotteten Erzvater der Vulgärökonomie, der Manchesterlehre[17] und der bürgerlichen Harmonien, dem „Jammermenschen“ Say, der schon 1803 das Dogma verkündet hat, daß von allen Dingen zuviel produziert werden könne, sei ein absurder Begriff; es könne nur partielle, aber keine allgemeinen Krisen geben: Wenn deshalb eine Nation von einer Art Produkte zuviel habe, so beweise das nur, daß sie von irgendeiner anderen Art zuwenig produziert habe.
Zweite Konsequenz. Wenn die kapitalistische Produktion für sich selbst einen genügenden Absatzmarkt bildet, dann ist die kapitalistische Akkumulation (objektiv genommen) ein schrankenloser Prozeß. Da die Produktion auch dann, wenn die ganze Welt restlos vom Kapital beherrscht, wenn die ganze Menschheit bloß aus Kapitalisten und Lohnproletariern bestehen wird, ungestört weiterwachsen, d. h. die Produktivkräfte schrankenlos entwickeln kann, da der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus somit keine Schranken gesetzt sind, so bricht damit der eine spezifisch Marxsche Grundpfeiler des Sozialismus zusammen. Nach Marx ist die Rebellion der Arbeiter, ihr Klassenkampf – und darin liegt gerade die Bürgschaft seiner siegreichen Kraft –, bloß ideologischer Reflex der objektiven geschichtlichen Notwendigkeit des Sozialismus, die sich aus der objektiven wirtschaftlichen Unmöglichkeit des Kapitalismus auf einer gewissen Höhe seiner Entwicklung ergibt. Selbstverständlich ist damit nicht gesagt – solche Vorbehalte aus dem Abc des Marxismus sind, wie wir sehen werden, für meine „Sachverständigen“ immer noch unentbehrlich –, daß der historische Prozeß bis zum letzten Rande dieser ökonomischen Unmöglichkeit ausgeschöpft werden müsse oder auch nur könne. Die objektive Tendenz der kapitalistischen Entwicklung auf jenes Ziel hin genügt, um schon viel eher eine derartige soziale und politische Verschärfung <446> der Gegensätze in der Gesellschaft und Unhaltbarkeit der Zustände hervorzubringen, daß sie dem herrschenden System ein Ende bereiten müssen. Aber diese sozialen und politischen Gegensätze sind selbst in letzter Linie nur Produkt der ökonomischen Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems, und sie schöpfen gerade aus dieser Quelle ihre zunehmende Verschärfung just in dem Maße, wie jene Unhaltbarkeit greifbar wird.
Nehmen wir hingegen mit den „Sachverständigen“ die ökonomische Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation an, dann schwindet dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter den Füßen. Wir verflüchtigen uns alsdann in die Nebel der vormarxschen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klassen ableiten wollten.[18]
Dritte Konsequenz. Wenn die kapitalistische Produktion einen genügenden Markt für sich selbst bildet und jegliche Erweiterung um den ganzen akkumulierten Wert gestattet, dann wird noch eine andere Erscheinung der modernen Entwicklung rätselhaft: die Hast und Jagd nach entferntesten Absatzmärkten und die Kapitalausfuhr, d. h. die markantesten Erscheinungen des heutigen Imperialismus. In der Tat unbegreiflich! Wozu der Lärm? Wozu die Eroberung der Kolonien, wozu die Opiumkriege der vierziger und sechziger Jahre[19] und die heutigen Balgereien um Kongosümpfe, um mesopotamische Wüsten[20]? Das Kapital bleibe doch zu Hause und nähre sich redlich. Krupp produziere doch munter für Thyssen, Thyssen für Krupp, mögen sie doch ihre Kapitalien nur immer in die <447> eigenen Betriebe stecken und diese füreinander erweitern und so im Kreise fort. Die geschichtliche Bewegung des Kapitals wird einfach unbegreiflich und mit ihr der heutige Imperialismus.
Oder aber bleibt die unbezahlbare Erklärung Pannekoeks in der „Bremer Bürger-Zeitung“[21]: das Suchen nach nichtkapitalistischen Absatzmärkten sei zwar „Tatsache, aber keine Notwendigkeit“, was ja eine wahre Perle der materialistischen Geschichtsauffassung ist. Ganz richtig übrigens! Mit der Annahme der „Sachverständigen“ hört der Sozialismus als Endziel wie der Imperialismus als sein vorbereitendes Stadium auf, historische Notwendigkeit zu sein. Jener wird zu einem löblichen Entschluß der Arbeiterklasse wie dieser bloß eine Nichtswürdigkeit und Verblendung der Bourgeoisie.
So gelangen die „Sachverständigen“ vor eine Alternative, der sie nicht ausweichen können. Entweder ist kapitalistische Produktion und Absatzmarkt identisch, wie sie aus den Marxschen Schemata deduzieren, dann geht die Marxsche Krisentheorie, die Marxsche Begründung des Sozialismus und die historisch-materialistische Erklärung für den Imperialismus flöten. Oder aber kann das Kapital nur so weit akkumulieren, wie es außerhalb der Kapitalisten und Lohnarbeiter in der Gesellschaft Konsumenten findet, dann ist die Voraussetzung der Akkumulation – wachsender Absatz in nichtkapitalistischen Schichten und Ländern – unumgänglich.
Für die obigen Konsequenzen habe ich in all meiner Verlassenheit einen ganz unverdächtigen und auch höchst „sachverständigen“ Kronzeugen.
Es geschah, daß im Jahre 1901 ein Buch erschien: „Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England“ von dem marxistischen russischen Professor Michael v. Tugan-Baranowski. Tugan, der in dem genannten Buche seinen Marx in der Weise „revidierte“, daß er dessen Theorie Stück für Stück schließlich durch alte abgedroschene Weisheiten der bürgerlichen Vulgärökonomie ersetzte, vertrat hier unter anderen Paradoxen auch die Ansicht, daß die Krisen lediglich von mangelnder Proportionalität herrühren, nicht davon, daß die zahlungsfähige Konsumtion der Gesellschaft mit der Ausdehnungsfähigkeit der Produktion nicht Schritt halte. Und diese von Say erborgte Weisheit bewies er – dies war das Neue und Aufsehenerregende in seiner Theorie – durch die Marxschen Schemata der gesellschaftlichen Reproduktion im zweiten Bande des „Kapitals“!
„Ist es nur möglich“, sagt Tugan, „die gesellschaftliche Produktion zu erweitern, reichen die Produktivkräfte dazu aus, so muß bei der propor-<448>tionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion auch die Nachfrage eine entsprechende Erweiterung erfahren, denn unter diesen Bedingungen repräsentiert jede neuproduzierte Ware eine neuerschienene Kaufkraft für die Erwerbung anderer Waren.“ (S. 25.) Dies wird „bewiesen” durch die Marxschen Schemata, die Tugan nur mit anderen Zahlen nachmacht und aus denen er den Schluß zieht:
„Die angeführten Schemata mußten zur Evidenz den an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen, welcher aber bei ungenügendem Verständnis des Prozesses der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals leicht Einwände hervorruft, nämlich den Grundsatz, daß die gesellschaftliche Produktion für sich selbst einen Markt schafft.“ (Von mir hervorgehoben – R. L.)
In seiner Vorliebe für Paradoxe versteigt sich Tugan-Baranowski weiter bis zu der Schlußfolgerung, die kapitalistische Produktion sei überhaupt „in einem gewissen Sinne“ von der menschlichen Konsumtion unabhängig. Indes uns interessieren hier nicht die weiteren Tuganschen Witze, sondern lediglich sein „an sich sehr einfacher Grundsatz“, auf dem er alles weitere errichtet. Und da haben wir festzustellen:
Das, was meine „sachverständigen“ Kritiker mir jetzt entgegenhalten, ist wortwörtlich schon im Jahre 1901 von Tugan-Baranowski gesagt worden, und zwar in den beiden charakteristischen Behauptungen: 1. die kapitalistische Produktion bilde durch ihre eigene Ausdehnung den Absatzmarkt für sich, so daß der Absatz bei der Akkumulation an sich keine Schwierigkeiten bieten könne (außer durch mangelnde Proportionalität) ; 2. den Beweis, daß dem so sei, erbringen – die mathematischen Schemata nach dem Marxschen Muster, d. h. die Rechenübungen mit Addition und Subtraktion auf dem geduldigen Papier. Dies verkündete 1901[22] Tugan-Baranowski. Da erging es aber dem Manne schlecht. Sogleich nahm ihn Karl Kautsky in der „Neuen Zeit“ aufs Korn und unterzog die kühnen Absurditäten des russischen Revisionisten, unter anderem auch seinen obigen „Grundsatz“, einer erbarmungslosen Kritik?[23]
„Wäre dies richtig“, so schrieb Kautsky (nämlich, daß es, wie Tugan sagt, bei der proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion für die Ausdehnung des Marktes keine andere Schranke mehr gäbe außer den Produktivkräften, über welche die Gesellschaft verfügt!), „dann müßte die Industrie Englands um so schneller wachsen, je größer sein <449> Kapitalreichtum. Statt dessen gerät sie ins Stocken, das wachsende Kapital wandert aus, nach Rußland, Südafrika, China, Japan usw. Diese Erscheinung findet ihre ungezwungene Erklärung durch unsere Theorie, welche den letzten Grund der Krisen in der Unterkonsumtion sieht, und bildet eine der Stützen dieser Theorie; sie ist unbegreiflich vom Standpunkt Tugan-Baranowskis aus.“ (Neue Zeit, 1902, Nr. 31, S. 140.)
Welche ist nun „unsere Theorie“, die Kautsky derjenigen Tugans entgegenstellt? Hier ist sie in Kautskys eigenen Worten:
„Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, enthält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholt. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgt, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende.
Dies in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den ,orthodoxen‘ Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie.“ (1. c„ Nr. 29, S. 80. Hervorhebungen rühren von mir her – R. L.)
Wir sehen hier davon ab, daß Kautsky dieser Theorie den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen „aus Unterkonsumtion“ anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des „Kapitals“, S. 289[24], verspottet.
Wir sehen ferner davon ab, daß Kautsky in der ganzen Sache nichts als das Krisenproblem erblickt, ohne, wie es scheint, zu bemerken, daß die kapitalistische Akkumulation auch abgesehen von Konjunkturschwankungen ein Problem darstellt.
<450> Wir sehen endlich davon ab, daß die Kautskysche Äußerung, die Konsumtion der Kapitalisten und Arbeiter wachse „nicht rasch genug“ für die Akkumulation, diese daher eines „zusätzlichen Marktes“ bedürfe, ziemlich vag ist und den hier liegenden Haken der Akkumulation nicht exakt zu fassen versucht.
Uns interessiert nur, daß Kautsky hier jedenfalls schwarz auf weiß als seine Meinung und als „allgemein von den orthodoxen Marxisten“ angenommene Theorie erklärt:
daß Kapitalisten und Arbeiter allein für die Akkumulation keinen ausreichenden Markt darstellen;
daß die kapitalistische Akkumulation eines „zusätzlichen Marktes“ in nichtkapitalistischen Schichten und Nationen bedürfe.
Soweit steht fest: Kautsky widerlegte 1902 bei Tugan-Baranowski genau dieselben Behauptungen, die jetzt von den „Sachverständigen“ meiner Akkumulationserklärung entgegengehalten werden, und die „Sachverständigen“ der marxistischen Orthodoxie bekämpfen bei mir als horrende Abirrung vom wahren Glauben genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung, die Kautsky vor nun 14 Jahren dem Revisionisten Tugan-Baranowski als die „allgemein angenommene“ Krisentheorie der orthodoxen Marxisten entgegenhielt.
Und wie beweist Kautsky seinem Widerpart die Unhaltbarkeit von dessen Thesen? Just auf Grund der Marxschen Schemata? Kautsky zeigt seinem Tugan, daß diese Schemata bei richtiger Handhabung – ich habe in meinem Buche näher beleuchtet und will hier dahingestellt sein lassen, wie Kautsky selbst mit den Schemata operiert – nicht die Tugan-Baranowskische These beweisen, vielmehr im Gegenteil ein Beleg für die Theorie von den Krisen aus „Unterkonsumtion“ seien.
Die Welt wankt in ihren Grundfesten. Sollte der Obersachverständige am Ende auch „Wesen, Zweck und Bedeutung der Marxschen Schemata“ viel gründlicher als Tugan-Baranowski „verkannt“ haben?
Aber Kautsky zieht aus der Tugan-Baranowskischen Auffassung interessante Konsequenzen. Daß die Auffassung nach Kautskys Aussage der Marxschen Krisentheorie schnurstracks zuwiderläuft, daß sie ferner die Kapitalausfuhr nach nichtkapitalistischen Ländern unbegreiflich erscheinen läßt, haben wir bereits angeführt. Jetzt noch die allgemeine Tendenz jener Position:
„Welchen praktischen Wert haben … unsere theoretischen Differenzen?“ fragt Kautsky. „Ob die Krisen in der Unterkonsumtion oder in der <451> mangelnden Proportionalität der gesellschaftlichen Produktion ihren letzten Grund haben – ist das mehr als eine bloße Doktorfrage?
So dürfte mancher ,Praktiker‘ versucht sein zu meinen. Tatsächlich hat diese Frage eine große praktische Bedeutung, und zwar gerade für die jetzigen taktischen Differenzen, die in unserer Partei diskutiert werden. Es ist kein Zufall, daß der Revisionismus die Marxsche Krisentheorie besonders heftig bekämpft.“
Und Kautsky legt in aller Breite dar, daß die Tugan-Baranowskische Krisentheorie im Grunde genommen auf eine angebliche „Milderung der Klassengegensätze“ hinauslaufe, d. h. zum theoretischen Inventar jener Richtung gehöre, welche „die Umwandlung der Sozialdemokratie aus einer Partei des proletarischen Klassenkampf es in eine demokratische oder in den linken Flügel einer demokratischen Partei sozialistischer Reformen“ bedeute. (1. c„ Nr. 31, S. 141.)
So streckte der Obersachverständige vor 14 Jahren den Ketzer Tugan-Baranowski auf 36 gedruckten Seiten der „Neuen Zeit“ nach allen Regeln nieder und zog zum Schluß mit dem Skalp des Erlegten am Gürtel von dannen.
Und nun muß ich erleben, daß heute die „Sachverständigen“, die getreuen Schüler ihres Meisters, meine Analyse der Akkumulation genau mit demselben „Grundsatz” erschlagen, der den russischen Revisionisten in den Jagdgründen der „Neuen Zeit“ das Leben gekostet hat! Was bei diesem Abenteuer aus der „soweit wir sehen, allgemein von den orthodoxen Marxisten angenommenen Krisentheorie“ wird, ist freilich nicht ganz klar.
Doch es begab sich noch etwas Originelleres. Nachdem meine „Akkumulation“ so mit Tugan-Baranowskischen Waffen im „Vorwärts“, in der „Bremer Bürger-Zeitung“, in der „Dresdner Volkszeitung“, in der „Frankfurter Volksstimme“ zerschmettert worden ist, erschien in der „Neuen Zeit“ die Kritik Otto Bauers. Auch dieser Sachverständige glaubt zwar, wie wir gesehen, an die zauberhafte Beweiskraft mathematischer Schemata in Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion. Aber er ist mit den Marxschen Schemata doch nicht ganz zufrieden. Er findet sie „nicht einwandfrei“, „willkürlich und nicht ohne Widersprüche“, was er daraus erklärt, daß Engels diesen Teil des Marxschen Werkes im Nachlaß des Meisters „unfertig vorgefunden hat“. Er macht deshalb selbst im Schweiße seines Angesichts neue Schemata: „Darum haben wir hier Schemata aufgestellt, die, sobald man die Voraussetzungen einmal annimmt, nichts Willkürliches mehr enthalten.“ Erst mit diesen neuen Schemata glaubt Bauer <452> „eine einwandfreie Grundlage für die Untersuchung des von der Genossin Luxemburg gestellten Problems gewonnen“ zu haben. (Neue Zeit, 1913, Nr. 23, S. 838.) Vor allem hat Bauer aber begriffen, daß die kapitalistische Produktion sich nicht im blauen Luftraum „ungestört“ drehen kann, er sucht deshalb nach irgendeiner objektiven gesellschaftlichen Grundlage für die Akkumulation des Kapitals, die er schließlich in dem Wachstum der Bevölkerung findet.
Und hier beginnt das Kurioseste. Nach einstimmigem Votum der „Sachverständigen”, unter dem korporativen Segen der Redaktion des Zentralorgans ist mein Buch ein vollendeter Unsinn, plattes Mißverständnis, ein Problem der Akkumulation existiere gar nicht, bei Marx ist schon alles gelöst, die Schemata geben eine genügende Antwort. Nun sieht Bauer sich bemüßigt, seine Schemata doch auf eine etwas materiellere Basis als bloße Regeln der Addition und Subtraktion zu heften: Er faßt ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis ins Auge – das Wachstum der Bevölkerung; nach diesem richten sich seine Tabellen. Die Ausdehnung der kapitalistischen Produktion, wie sie die Schemata bildlich darstellen sollen, ist also nicht eine selbstherrliche Bewegung des Kapitals um die eigene Achse, sondern diese Bewegung folgt bloß dem jeweiligen Wachstum der Bevölkerung:
„Die Akkumulation setzt Ausdehnung des Produktionsfeldes voraus; ausgedehnt wird das Produktionsfeld durch das Wachstum der Bevölkerung.“[25] – „In der kapitalistischen Produktionsweise besteht die Tendenz zur Anpassung der Akkumulation des Kapitals an das Wachstum der Bevölkerung.“ – „Die Tendenz zur Anpassung der Akkumulation an das Bevölkerungswachstum beherrscht die internationalen Beziehungen.“ – „Die kapitalistische Weltwirtschaft als Ganzes betrachtet, wird die Tendenz zur Anpassung der Akkumulation an das Bevölkerungswachstum sichtbar in dem industriellen Zyklus.“ – „Die periodische Wiederkehr der Prosperität, der Krise, der Depression ist der empirische Ausdruck der Tatsache, daß der Mechanismus der kapitalistischen Produktion selbsttätig Überakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumulation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der Bevölkerung anpaßt.“ (Neue Zeit, 1913, Nr. 24, S. 871-873. Alles bei Bauer hervorgehoben.)
Wir werden später an die nähere Prüfung der Bauerschen Bevölkerungstheorie herangehen. Aber soviel ist jedenfalls klar: Diese Theorie stellt an <453> sich etwas ganz Neues dar. Für die anderen „Sachverständigen“ war jede Frage nach gesellschaftlicher, ökonomischer Basis der Akkumulation glatter Unsinn, „in der Tat schwer zu ergründen“. Bauer hingegen konstruiert eine ganze Theorie, um diese Frage zu beantworten.
Doch die Bauersche Bevölkerungstheorie ist nicht bloß für die anderen Kritiker meines Buches eine Neuigkeit, in der ganzen marxistischen Literatur taucht sie zum erstenmal auf. Weder in den drei Bänden des Marxschen „Kapitals“ noch in den „Theorien über den Mehrwert“, noch in den sonstigen Schriften Marxens findet sich eine Spur der Bauerschen Bevölkerungstheorie als Grundlage der Akkumulation.
Sehen wir ferner zu, wie Karl Kautsky seinerzeit den zweiten Band des „Kapitals“ in der „Neuen Zeit“ angezeigt und besprochen hat.[26] In der ausführlichen Inhaltsangabe des zweiten Bandes behandelt Kautsky die ersten Abschnitte über die Zirkulation in eingehendster Weise, führt sämtliche Formeln und Zeichen, wie sie Marx dabei gebrauchte, getreu an, dabei widmete er dem ganzen Abschnitt über die „Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals“, dem wichtigsten und originellsten Teil des Bandes, von den 20 Druckseiten, auf denen er den Band behandelt, ganze drei Seiten. Auf diesen drei Seiten behandelt Kautsky jedoch ausschließlich – natürlich mit genauer Wiedergabe der unvermeidlichen „Schemata“ – die einleitende Fiktion der „einfachen Reproduktion“, d. h. einer kapitalistischen Produktion ohne Profitmacherei, die Marx selbst als bloßen theoretischen Ausgangspunkt für die Untersuchung des eigentlichen Problems: der Akkumulation des Gesamtkapitals, betrachtet. Diese letztere erledigt Kautsky nun buchstäblich mit den folgenden zwei Zeilen: „Weitere Komplikationen bringt endlich die Akkumulation des Mehrwerts, die Erweiterung des Produktionsprozesses.“ Punktum. Kein Sterbenswort mehr damals, gleich nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des „Kapitals“, und kein Sterbenswort seitdem in den verflossenen 30 Jahren. Also nicht bloß finden wir auch hier keine Spur der Bauerschen Bevölkerungstheorie, sondern Kautsky ist der ganze Abschnitt über die Akkumulation nicht im mindesten aufgefallen. Weder bemerkt er hier irgendein besonderes Problem, zu dessen Lösung Bauer jetzt „eine einwandfreie Grundlage“ geschaffen hat, noch auch die Tatsache, daß Marx hier seine eigene kaum begonnene Untersuchung mitten im Wort abbricht, ohne eine Antwort auf die von ihm selbst wiederholt gestellte Frage gegeben zu haben.
<454> Noch einmal kommt Kautsky seitdem auf den zweiten Band des „Kapitals“ zu sprechen, und zwar in der von uns bereits angezogenen Artikelserie gegen Tugan-Baranowski. Hier formuliert Kautsky jene „soweit wir sehen, allgemein von den orthodoxen Marxisten angenommene, von Marx begründete Krisentheorie“, deren Kernpunkt darin besteht, daß die Konsumtion der Kapitalisten und Arbeiter für die Akkumulation als Basis nicht ausreiche und daß „ein zusätzlicher Absatzmarkt“ notwendig sei, und zwar „in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen“. Kautsky scheint aber nicht gewahr zu werden, daß diese „allgemein von den orthodoxen Marxisten angenommene“ Krisentheorie nicht bloß zu den Tugan-Baranowskischen Paradoxen, sondern auch zu den eigenen Schemata der Akkumulation von Marx sowie zu deren allgemeiner Voraussetzung im zweiten Bande durchaus nicht paßt. Denn die Voraussetzung der Marxschen Analyse im zweiten Bande ist gerade eine nur aus Kapitalisten und Arbeitern bestehende Gesellschaft, und die Schemata unternehmen es eben, exakt als ein ökonomisches Gesetz darzustellen, wie jene zwei nichtausreichenden Konsumentenklassen durch ihre Konsumtion allein die Akkumulation von Jahr zu Jahr ermöglichen sollen. Noch weniger finden wir hier bei Kautsky auch nur die leiseste Andeutung der Bauerschen Bevölkerungstheorie als wahre Grundlage der Marxschen Schemata der Akkumulation.
Nehmen wir Hilferdings „Finanzkapital“[27], so gibt er darin im Kapitel XVI, nach einer Einleitung, worin die Marxsche Darstellung der Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals in höchsten – und in der Tat völlig angemessenen – Ausdrücken der Bewunderung als die genialste Leistung des „erstaunlichen Werkes“ gepriesen wird, auf 14 Druckseiten eine wörtliche Abschrift der einschlägigen Seiten von Marx, natürlich mitsamt den mathematischen Schemata, wobei Hilferding sich – wiederum mit Recht – auch noch beklagt, daß diese Schemata so wenig betrachtet worden und erst dankenswerterweise durch Tugan-Baranowski einigermaßen zu Ehren gekommen seien. Und was bemerkt Hilferding selbst in der ganzen genialen Leistung? Hier seine Konklusionen:
Die Marxschen Schemata zeigen, „daß in der kapitalistischen Produktion sowohl Reproduktion auf einfacher als auf erweiterter Stufenleiter ungestört vor sich gehen kann, wenn nur diese Proportionen erhalten bleiben. Umgekehrt kann Krise auch bei einfacher Reproduktion eintreten bei Verletzung der Proportion, zum Beispiel zwischen abgestorbenem und <455> neuanzulegendem Kapital. Es folgt also durchaus nicht, daß die Krise in der der kapitalistischen Produktion immanenten Unterkonsumtion der Massen ihre Ursache haben muß. – Ebensowenig folgt aus den Schemata an sich die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion an Waren, vielmehr läßt sich jede Ausdehnung der Produktion als möglich zeigen, die überhaupt bei den vorhandenen Produktivkräften stattfinden kann.“ (S. 318.) [Hervorhebungen – R. L.]
Das ist alles. Auch Hilferding erblickt also in der Marxschen Analyse der Akkumulation einzig und allein eine Grundlage zur Lösung des Krisenproblems, und zwar indem die mathematischen Schemata die Proportionen zeigen, bei deren Einhaltung die ungestörte Akkumulation stattfinden könnte. Daraus zieht Hilferding zwei Schlüsse:
Krisen entstehen lediglich aus Disproportionalität – womit er die ,,soweit wir sehen, allgemein von den orthodoxen Marxisten angenommene, von Marx begründete Krisentheorie“ aus „Unterkonsumtion“ im Orkus versenkt und dafür die von Kautsky als revisionistische Ketzerei zerschmetterte Krisentheorie Tugan-Baranowskis übernimmt, in deren Konsequenz er folgerichtig bis zu der Behauptung des „Jammermenschen“ Say gelangt: allgemeine Überproduktion sei unmöglich.
Abgesehen von Krisen als periodische Störungen infolge mangelnder Proportionalität könne die Kapitalakkumulation (in einer bloß aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft) durch fortwährende „Ausdehnung“ schrankenlos so weit gehen, wie nur die jeweiligen Produktivkräfte erlauben, womit wiederum der von Kautsky zerschmetterte Tugan wörtlich kopiert wird.
Ein Problem der Akkumulation, abgesehen von Krisen, existiert also für Hilferding nicht, denn die „Schemata zeigen“ ja, daß „jede Ausdehnung“ schrankenlos möglich sei, d. h„ daß mit der Produktion zugleich ihr Absatz ohne weiteres wachse. Von der Bauerschen Schranke des Bevölkerungswachstums auch hier keine Spur und keine Ahnung, daß eine solche Theorie notwendig war.
Und endlich auch für Bauer selbst ist seine jetzige Theorie eine ganz neue Entdeckung.
Erst 1904, also schon nach der Auseinandersetzung zwischen Kautsky und Tugan-Baranowski, behandelte er in der „Neuen Zeit“ in zwei Artikeln speziell die Krisentheorie im Lichte der Marxschen Theorie.[28] Er erklärt dort selbst, zum erstenmal eine zusammenhängende Darstellung die-<456>ser Theorie geben zu wollen. Und er führt die Krisen – unter Benutzung einer Äußerung im zweiten Bande des Marxschen „Kapitals“, die den zehnjährigen Zyklus der modernen Industrie zu erklären sucht – hauptsächlich auf die besondere Zirkulationsform des fixen Kapitals zurück. Nicht mit einer Silbe erwähnt Bauer hier die grundlegende Bedeutung des Verhältnisses zwischen Produktionsumfang und Bevölkerungswachstum. Die ganze Bauersche Theorie, die „Tendenz der Anpassung an das Wachstum der Bevölkerung“, die jetzt die Krisen wie die Hochkonjunktur, die Akkumulation wie die internationale Emigration des Kapitals von Land zu Land und endlich auch den Imperialismus erklären soll: jenes übermächtige Gesetz, das den ganzen Mechanismus der kapitalistischen Produktion in Bewegung setzt und „selbsttätig regelt“ – existierte für Bauer wie für die übrige Welt gar nicht! Jetzt, in Beantwortung meines Buches, ist die grundlegende Theorie, welche die Marxschen Schemata erst auf „einwandfreie Grundlage“ stellt, plötzlich aufgetaucht, ad hoc aus dem Ärmel geschüttelt – um das Problem zu lösen, das ja angeblich gar nicht existiertet
Was sollen wir nun von allen anderen „Sachverständigen“ halten? Stellen wir nun in einigen Punkten zusammen, was gesagt worden ist.
Nach Eckstein und Hilferding (wie auch nach Pannekoek) existiert gar kein Problem der Kapitalakkumulation. Alles sei klar, selbstverständlich, wie die Marxschen Schemata „zeigen“. Nur meine bodenlose Unfähigkeit, die Schemata zu begreifen, könne meine Kritik an ihnen erklären. Nach Bauer sind die von Marx verwendeten Zahlen „willkürlich gewählt und nicht frei von Widersprüchen“. Erst er, Bauer, habe jetzt „für Marxens Gedankengang eine angemessene Veranschaulichung“ gefunden und ein „von der Willkür befreites Schema“ aufgestellt.
Nach Eckstein und der Redaktion des „Vorwärts“ muß mein Buch als völlig wertlos „zurückgewiesen werden“, nach dem kleinen „Sachverständigen“ der „Frankfurter Volksstimme“ (1. Februar 1913) ist es sogar „höchst schädlich“. Nach Bauer „ist in der falschen Erklärung doch ein echter Kern verborgen“: sie weise auf die Schranken der Kapitalakkumulation hin. (Neue Zeit, 1913, Nr. 24, S. 873.)
Nach Eckstein und dem „Vorwärts“ hat mein Buch mit dem Imperialismus nicht das geringste zu tun: „Überhaupt hat das Buch mit den neuen Erscheinungen des heute pulsierenden wirtschaftlichen Lebens so wenig zu tun, daß es ebensogut auch vor 20 und mehr Jahren hätte geschrieben werden können.” Nach Bauer deckt meine Untersuchung zwar „nicht die einzige“, „aber in der Tat eine Wurzel des Imperialismus“ auf (1. c„ S. 874), <457> was für eine kleine Person wie ich auch schon eine nette Leistung wäre.
Nach Eckstein zeigen die Marxschen Schemata einmal, „wie groß tatsächlich das gesellschaftliche Bedürfnis“, sie zeigen „die Möglichkeit des Gleichgewichts“, von dem die kapitalistische Wirklichkeit aber „sich sehr wesentlich entfernt“, weil sie vom Streben nach Profit beherrscht wird, woraus Krisen entstehen; gleich in der nächsten Spalte „entspricht die Darstellung dem Marxschen Schema, aber auch der Wirklichkeit“, denn das Schema zeigt gerade, „wie dieser Profit für die Kapitalisten realisiert wird“. (Vorwärts vom 16. Februar 1913, Beilage.) Nach Pannekoek gibt es gar keinen Gleichgewichtszustand, sondern bloß blauen Luftraum: „Der Umfang der Produktion ist mit einem gewichtslosen Ding zu vergleichen ..„ das in jeder Lage schweben kann. Für den Umfang der Produktion gibt es keine Gleichgewichtslage, zu der er bei Abweichungen zurückgezogen wird ..„ der industrielle Zyklus ist kein Schwanken um irgendeine Mittellage, die durch irgendein Bedürfnis gegeben wird.“ (Theoretisches zur Ursache der Krisen. In: Neue Zeit, 1913, Nr. 22, S. 783, 792.) Nach Bauer bedeuten die Marxschen Schemata, deren wahren Sinn er endlich entziffert hat, nichts anderes als die Bewegung der kapitalistischen Produktion in ihrer Anpassung an das Wachstum der Bevölkerung.
Eckstein und Hilferding glauben an die objektive ökonomische Möglichkeit der schrankenlosen Akkumulation: „Und wer die Produkte kauft, das zeigen eben die Schemata“ (Eckstein), die sich ja auf dem Papier ins unendliche fortführen lassen. Das Pannekoeksche „gewichtslose Ding“ kann erst recht, wie er selbst sagt, „in jeder Lage schweben“. Hilferding zufolge, „läßt sich jede Ausdehnung der Produktion als möglich zeigen, die überhaupt bei den vorhandenen Produktivkräften stattfinden kann“, da, wie die Schemata zeigen, mit der Produktion auch der Absatz automatisch steigt. Nach Bauer können nur „die Apologeten des Kapitals die Schrankenlosigkeit der Akkumulation erweisen“ und behaupten wollen, „mit der Produktion steige automatisch auch die Konsumtionskraft“! (Neue Zeit, 1913, Nr. 24, S. 873.)
Wie steht’s nun? Was meinen schließlich die Herren „Sachverständigen“? Gab es bei Marx ein Problem der Akkumulation, welches wir bloß bisher allesamt nicht bemerkt hatten, oder ist das Problem immer noch, auch nach seiner neuesten Lösung durch Otto Bauer, bloß eine Ausgeburt meiner „gänzlichen Unfähigkeit, mit den Marxschen Schemata zu arbeiten“, wie der „Vorwärts“-Rezensent sagte? Sind die Marxschen Schemata endgültige Wahrheiten letzter Instanz, unfehlbares Dogma, oder sind sie <458> „willkürlich und nicht frei von Widersprüchen“? Greift das von mir angeschnittene Problem in die Wurzeln des Imperialismus ein, oder hat es mit den Erscheinungen „des heute pulsierenden Lebens nicht das geringste zu tun“? Und was sollen die, wie Eckstein schreibt, „berühmt gewordenen” Marxschen Schemata schließlich darstellen: einen nur theoretisch gedachten „Gleichgewichtszustand“ der Produktion, ein Bild der realen Wirklichkeit, einen Beweis für die Möglichkeit „jeder Ausdehnung“, also schrankenlosen Wachstums der Produktion, einen Beweis ihrer Unmöglichkeit angesichts der Unterkonsumtion, eine Anpassung der Produktion an die Schranke des Bevölkerungswachstums, den Pannekoekschen „gewichtslosen“ Kinderballon oder noch etwas anderes, vielleicht ein Kamel oder ein Wiesel? Es ist bald Zeit, daß die „Sachverständigen“ anfangen, sich über die Sache zu verständigen.
Inzwischen ein schönes Bild der Klarheit, Harmonie und Geschlossenheit des offiziellen Marxismus in bezug auf den grundlegenden Teil des zweiten Bandes des Marxschen „Kapitals“! Und eine treffende Legitimation zu der Hochnäsigkeit, mit der diese Herren mein Buch abgekanzelt haben![29]
<459> Nachdem mich nun Otto Bauer so der Notwendigkeit überhoben hat, mich mit den anderen „Sachverständigen“ weiter auseinanderzusetzen, wende ich mich zu Bauer selbst.

Fußnoten

  1. Grundlage für die Edition dieser Arbeit ist die 1921 in Frankes Verlag G.m.b.H. Leipzig erschienene Ausgabe.
  2. Siehe S. 5–411.
  3. Siehe Die Akkumulation des Kapitals. In: Dresdner Volkszeitung, Nr. 16 u. 17 vom 21. u. 22. Januar 1913. – Anton Pannekoek: Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Bremer Bürger-Zeitung vom 29. u. 30. Januar 1913. – Frankfurter Volksstimme vom 1. Februar 1913. – Gustav Eckstein: Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 40 vom 16. Februar 1913. – Otto Bauer: Die Akkumulation des Kapitals. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 831–838 u. S. 862–874. – Max Schippel: Das Grundgeheimnis des Imperialismus. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 17. (19.) Jg. 1913, Erster Band, S. 147–152.
  4. Franz Mehring hatte eine positive Rezension an das sozialdemokratische Pressebüro gegeben, die von 25 sozialdemokratischen Zeitungen nachgedruckt worden war. Vom Parteivorstand und von der Redaktion des „Vorwärts“ war Mehring daraufhin wegen „mißbräuchlicher Ausnutzung“ des unter Leitung von Emil Eichhorn stehenden Pressebüros gerügt worden. Siehe dazu Vorwärts (Berlin), Nr. 36 vom 12. Februar 1913, Nr. 38 vom 14. Februar 1913, Nr. 40 vom 16. Februar 1913.
  5. Siehe Gustav Eckstein: Überflüssige Aufregung. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 46 vom 23. Februar 1913.
  6. Siehe S. 9, Fußnote 1.
  7. Man sehe ein derartiges Beispiel dafür bei dem „Vorwärts“-Rezensenten meines Buches, G. Eckstein, der nach einleitenden wichtigen Versprechungen, den Leser über das gesellschaftliche Bedürfnis zu belehren, sich ein paarmal hilflos wie die Katze um den eigenen Schwanz herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen, und schließlich erklärt, die Sache sei „keineswegs einfach und leicht“. (Gustav Eckstein: Die Akkumulation des Kapitals. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 40 vom 16. Februar 1913.) Das stimmt. Ein paar schnoddrige Redensarten sind viel einfacher und leichter.
  8. In seinem Vorwort zum zweiten Band des „Kapitals“ verwies Friedrich Engels darauf, daß das 21. Kapitel, „Akkumulation und erweiterte Reproduktion“, bereits eine von Karl Marx überarbeitete Fassung sei und damit „dem erweiterten Gesichtskreis des Verfassers entsprach“. Friedrich Engels: Vorwort [zu Karl Marx „Das Kapital“, Zweiter Band]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke; Bd. 24, S. 12.
  9. Siehe S. 227, Fußnote 3.
  10. Friedrich Engels: Vorwort [zu Karl Marx „Das Kapital“, Zweiter Band]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 12.
  11. Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 25.
  12. Hans Vaihinger: Eine Blattversetzung in Kants Prolegomena. In: Philosophische Monatshefte (Leipzig). Jg. 1879, S. 321–332, u. ebenda, Jg. 1883, S. 401–416.
  13. J. H. Witte: Die angebliche Blattversetzung in Kants Prolegomena. In: Philosophische Monatshefte (Leipzig), Jg. 1883, S. 145–174 u. S. 597–614.
  14. Otto Bauer: Die Akkumulation des Kapitals. Rezension. In: Die Neue Zelt (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 831–838 u. S. 862–874.
  15. Ebenso A. Pannekoek in der „Bremer Bürger-Zeitung“ vom 29. Januar 1913: „Die Antwort gibt das Schema selbst in der einfachsten Weise, denn alle Produkte finden dort (d. h. auf dem Papier der „Bremer Bürger-Zeitung“ – R. L.) Absatz. Die Abnehmer sind die Kapitalisten und Arbeiter selbst … Esliegt also gar kein Problem vor, das zu lösen wäre.“
  16. „Und wer die Produkte kauft, das zeigen eben die Schemata.“ „Genossin Luxemburg hat eben Wesen, Zweck und Bedeutung der Marxschen Schemata gründlich mißverstanden.“ (G. Eckstein, „Vorwärts“-Rezension vom 16. Februar 1913, Beilage.)
  17. Siehe S. 197, Fußnote 1.
  18. Oder aber bleibt der etwas nebelhafte Trost eines kleinen „Sachverständigen“ aus der „Dresdner Volkszeitung“ übrig, der nach gründlicher Vernichtung meines Buches erklärt, der Kapitalismus werde schließlich „an dem Fall der Profitrate“ zugrunde gehen.1 Wie sich der gute Mann eigentlich das Ding vorstellt, ob so, daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert? Wie dem sei, der Trost wird leider durch einen einzigen Satz von Marx in Dunst aufgelöst, nämlich durch den Hinweis, daß „für große Kapitale der Fall der Profitrate durch Masse aufgewogen“,werde. Es hat also mit dem Untergang des Kapitalismus am Fall der Profitrate noch gute Wege, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne. (1) Die Akkumulation des Kapitals. In: Dresdner Volkszeitung, Nr. 17 vom 22. Januar 1913. (2) Siehe Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 25, S. 258.
  19. Siehe S. 206, Fußnote 1.
  20.  Die Gebiete um den Kongo wurden ab 1916 vom britischen Imperialismus beherrscht, nachdem im Juli 1915 englische Truppen dem deutschen Imperialismus Südwestafrika abgenommen, 1916 die deutschen Kolonialtruppen in Kamerun zur Kapitulation gezwungen und an die Südgrenze von Ostafrika zurückgedrängt hatten. In Mesopotamien mußte im April 1916 ein englisches Expeditionskorps vor den Türken kapitulieren.
  21. Anton Pannekoek: Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Bremer Bürger-Zeitung vom 30. Januar 1913.
  22. In der Quelle: 1902.
  23. Karl Kautsky: Krisentheorien. In: Die Neue Zeit (Stuttgart); 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 37–47, S. 76–81, S. 110–118 u. S. 133–143.
  24. Siehe Karl Marx: Dm Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 319 f.
  25.  „Die Erweiterung des Produktionsfelder, dieeine Voraussetzung der Akkumulation bildet, ist hier durch das Wachstum der Bevölkerung gegeben.“ Otto Bauer: Die Akkumulation des Kapitals. Rezension. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 869.
  26. Karl Kautsky: Das „Elend der Philosophie“ und „Das Kapital“. In: Die Neue Zelt (Stuttgart), 4. Jg. 1886, S. 7–19, S. 49–58, S. 117–129 u. S. 157–165.
  27. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910.
  28.  Otto Bauer: Marx’ Theorie der Wirtschaftskrisen. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 133–138 u. S. 164–170.
  29.  Der Rezensent des „Vorwärts“, Eckstein, hat von dem, um was es sich in der Sache eigentlich handelt, von allen „Sachverständigen“ am wenigsten kapiert. Er gehört zu jener mit dem Wachstum der Arbeiterpresse aufgekommenen Gattung von Journalisten, die jederzeit über alles schreiben können: über japanisches Familienrecht, moderne Biologie, Geschichte des Sozialismus, Erkenntnistheorie, Ethnographie, Kulturgeschichte, Nationalökonomie, taktische Probleme – was man gerade braucht. Solche Universalschreiber bewegen sich dann auf sämtlichen Gebieten des Wissens mit jener skrupellosen Sicherheit, um die sie ein ernster Forscher aufrichtig beneiden kann. Wo ihnen aber jegliches Verständnis für den „übernommenen“ Gegenstand abgeht, ersetzen sie es dadurch, daß sie dreist und massiv werden. Hier nur zwei Beispiele dafür: „Erkennt man schon hier“, sagt E. an einer Stelle seiner Rezension, „daß die Verfasserin Sinn und Zweck der Marxschen Darstellung verkannt hat, so wird diese Erkenntnis durch den übrigen Inhalt des Buches bestätigt. Vor allem ist ihr schon die Technik dieser Schemata vollkommen unklar geblieben. Das zeigt sich bereits auf S. 72 des Buches sehr deutlich.“ Dort handelt es sich nämlich darum, daß Marx die Geldproduktion in seinem Schema zur Abteilung der Produktionsmittel zählt. Ich kritisiere dies in meinem Buche und suche zu zeigen, daß, da Geld eben als solches nicht Produktionsmittel, sich aus jener Vermengung notwendigerweise große Schwierigkeiten der exakten Darstellung ergeben müssen. Dazu gibt Eckstein folgenden Senf: „Genossin Luxemburg beanstandet nun, daß Marx die Produktion des Geldmaterials, also von Gold und Silber, in die Reihe I eingliedert und zur Produktion von Produktionsmitteln rechnet. Das sei fehlerhaft. Deshalb setzt sie unter die beiden von Marx aufgestellten Reiben noch eine dritte, welche die Produktion des Geldmaterials veranschaulichen soll. Das ist gewiß zulässig; aber man ist gespannt, wie nun die gegenseitige Umsetzung in den drei Reihen vor sich gehen soll.“ [Hervorhebung – R. L.] Und nun findet eesich bitter enttäuscht! „In dem von Gen. Luxemburg aufgestellten Schema ist die Schwierigkeit – nicht nur sehr groß, sie ist unüberwindlich … Sie selbst macht aber nicht den geringsten Versuch, diese ,organischen Verschlingungen‘ darzustellen. Der bloße Versuch hätte ihr zeigen müssen, daß ihr Schema unmöglich ist“ und so mit Grazie fort. Dabei ist das „von Gen. Luxemburg aufgestellte Schema“ auf S. 72 gar nicht von mir „aufgestellt“, sondern – von Marx! Ich schreibe hier einfach die im „Kapital“, Bd. II, S. 446 [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 466.], angegebenen Zahlen ab, gerade um zu zeigen, daß sich nach Marxschen Angaben die Eingliederung der Geldproduktion nicht durchführen lasse, was ich mit folgenden ausdrücklichen Worten einleite: „Übrigens zeigt ein Blick auf das (Marxsche) Reproduktionsschema selbst, zu welchen Unzuträglichkeiten die Verwechselung der Austauschmittel mit Produktionsmitteln führen müßte.“ [Siehe S. 72 f.] Und da kommt Eckstein, schiebt mir das Marxsche Schema, das ich kritisiere, in die Schuhe und kanzelt mich auf Grund dieses Schemas wie eine dumme Göre ab, daß mir „schon die Technik dieser Schemata“ vollkommen unklar geblieben sei.
    Ein anderes Beispiel. Marx hat auf S. 487 des „Kapitals“, Bd. II [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 505.], sein erstes Schema der Akkumulation aufgestellt, in dem er die Kapitalisten der einen Abteilung immer 50 Prozent ihres Mehrwertes kapitalisieren läßt, die der anderen Abteilung aber, wie’s Gott gefällt, ohne jede ersichtliche Regel, nur nach dem Bedarf der ersten Abteilung. Dicse Annahme suche ich zu kritisieren als eine willkürliche. Da kommt wieder Eckstein mit folgendem Guß: „Der Fehler liegt in der Art ihrer Rechnung selbst, und diese zeigt, daß sie das Wesen der Marxschen Schemata nicht erfaßtbat. Sie glaubt nämlich, diesen liege die Forderung einer gleichen Akkumulationsrate zugrunde, d. h„ sle setzt voraus, daß in beiden betrachteten Hauptabteilungen der gesellschaftlichen Produktion stets im gleichen Verhältnis akkumuliert, d. h. ein gleicher Teil des Mehrwerts zum Kapital geschlagen werde. Das ist aber eine ganz willkürliche Annahme, die den Tatsachen widerspricht … In Wirklichkeit gibt eskeine solche allgemeine Akkumulationsrate, undsie wäre auch theoretisch ein Unding.“ Hier liege „ein kaum begreiflicher Irrtum der Verfasserin vor, der neuerdings zeigt, daß ihr das Wesen der Marxschen Schemata völlig rätselhaft geblieben ist“. [Hervorhebung – R. L.] Das wirkliche Gesetz der gleichen Profitrate stehe „im vollen Gegensatz zum eingebildeten Gesetz der gleichen Akkumulation“ usw„ mit der saftigen Gründlichkeit, gesalzen und gepfeffert, wie Eckstein nun einmal meine Vernichtung besorgt. Wenn schon – denn schon. Nun stellt aber Marx fünf Seiten weiter ein zweites Beispiel seines Schemas der Akkumulation auf, und zwar das eigentliche, grundlegende, mit dem er dann ausschließlich bis zu Ende operiert, während jenes erste bloß ein Versuch, ein vorläufiger Entwurf war. Und in diesem zweiten, endgültigen Beispiel nimmt Marx ständig die gleiche Akkumulationsrate, „das eingebildete Gesetz“ in beiden Abteilungen an! Das „theoretische Unding“, der „volle Gegensatz zum wirklichen Gesetz der gleichen Profitrate‘, diese ganze Summe von kapitalen Vergehen und Verbrechen findet sich im Marxschen Schema auf S. 496 des „Kapitals“; Bd. II [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24; S. 514.], und Marx verharrt in diesen Sünden bis zut letzten Zeile des Bandes. Der Guß geht also wieder dem unglücklichen Marx über den Rücken, dieser ist es offenbar, dem „das Wesen“ seiner eigenen Schemata „völlig rätselhaft geblieben ist“. Welches Pech er übrigens nicht nur mit mir, sondern auch mit Otto Bauer teilt, der bei seinem eigenen „einwandfreien“ Schema gleichfalls als Voraussetzung ausdrücklich aufzählt, „daß die Akkumulationsrate in beiden Produktionssphären gleich sei“. (Neue Zeit, 1. c„ S. 838.) Das ist Ecksteinsche Kritik. Und von einem solchen Burschen, der nicht einmal das Marxsche „Kapital“ ordentlich durchgelesen hat, muß man sich Unverschämtheiten an den Kopf werfen lassen! Daß eine derartige „Rezension“ überhaupt im „Vorwärts“ erscheinen konnte, ist eine bezeichnende Blüte der Herrschaft der „austromarxistischen“ Epigonenschule in den beiden Zentralorganen der Sozialdemokratie, und ich werde mir, so mir Gott gestattet, die zweite Auflage meines Buches zu erleben, nicht nehmen lassen, diese Perle im Anhang in vollem Abdruck für die Nachwelt zu retten!




Quelle

Aus: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 415–459.