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Schriften

Das belgische Experiment

I

Leipzig, 15. Mai

Der belgische Generalstreik[1] verdient nicht bloß als eine hervorragende Kraftanstrengung und Kampfleistung der proletarischen Masse Sympathie und Bewunderung der internationalen Sozialdemokratie, sondern ist ebensosehr geeignet, Gegenstand ernster kritischer Prüfung und dadurch Quelle der Belehrung für sie zu werden. Der zehntägige Streik im April ist nur eine Episode, ein neuer Abschnitt in der langen Reihe von Kämpfen des belgischen Proletariats um das allgemeine, gleiche Wahlrecht gewesen, die seit Beginn der 90er Jahre dauern und allem Anschein nach von ihrem Abschluß noch weit entfernt sind. Wollen wir also nicht im Tone des Offiziösentums stets und lediglich Beifall klatschen zu allem, was die sozialdemokratische Partei tut und läßt, so haben wir uns angesichts des neuen hervorragenden Anlaufs der belgischen Arbeiterpartei im Wahlrechtskampf zu fragen: Bedeutet dieser Generalstreik einen Schritt vorwärts auf der allgemeinen Kampflinie? Bedeutet er insbesondere eine neue Kampfform, neue taktische Wendung, die von nun an die Kampfmethoden des belgischen und vielleicht des internationalen Proletariats zu bereichern berufen wäre?
Die letzte Frage ist um so berechtigter, als die belgischen Parteiführer – und zwar ohne Unterschied der taktischen Stellung – den Aprilstreik mit viel Nachdruck den früheren belgischen Wahlrechtsstreiks wie den bekannten Massenstreiks, die wir in andern Ländern erlebt haben, entgegenstellen und als eine neue Waffe im Arsenal des kämpfenden Proletariats preisen. In der kleinen Herstaler Monatsschrift „La lutte de classe” (Klassenkampf) schrieb de Brouckère im März:
„Es ist das drittemal, daß wir für das gleiche Wahlrecht streiken werden, und man hat schon um seinetwillen in andern Ländern gestreikt. Der Streik vom 19. April wird nichtsdestoweniger ein neues Ereignis darstellen, durch seine wahrscheinliche Dauer wie durch die Auffassung, aus der heraus er vorbereitet wurde. Dieser Streik soll nicht ähneln weder den stürmischen Bewegungen von 1893[2] und 1902[3] noch den kurzen politischen Streiks in Schweden[4] und Österreich[5], noch auch den revolutionären Streiks in Rußland. Es wird der erste Versuch sein, einen politischen Streik nach denselben Grundsätzen zu leiten, welche die gewerkschaftlichen Bewegungen so wirksam gestaltet haben, oder, wenn man will, ein Versuch, die gewerkschaftliche Aktion auf die Eroberung der politischen Gleichheit auszudehnen.”
Ebenso hoben die Parteiführer auf dem Kongreß vom 24. April, der die Aufhebung des Generalstreiks beschloß, dessen besonderen Charakter wiederholt hervor. Auch Vandervelde schreibt in seinem Artikel im „Vorwärts” vom 28. April:
„Aber im Gegensatz zu ähnlichen früheren Bewegungen in Belgien oder anderswo handelte es sich diesmal nicht mehr um einen improvisierten und stürmischen, sondern um einen langen, geduldig und methodisch vorbereiteten Streik.”[6]
So liegt es denn nahe, vor allem die Wirksamkeit dieses neuen eigenartigen Versuchs mit den früheren Versuchen des belgischen Proletariats zu vergleichen. Faßt man lediglich das unmittelbare, greifbare Resultat ins Auge, dann ist allerdings der Schluß nicht abzuweisen, daß das neue Experiment der belgischen Partei unvergleichlich weniger eingebracht hat als ihr erster Anlauf vor zwanzig Jahren. Im Jahre 1891 genügte der erste kurze Massenstreik von 125 000 Arbeitern, um die Einsetzung der Kommission für die Reform des Wahlrechts zu erzwingen. Im April des Jahres 1893 genügte ein spontaner Streik von 250000 Arbeitern, damit die Kammer die seit zwei Jahren in der Kommission versumpfte Wahlrechtsreform binnen 24 Stunden, in einer einzigen langen Sitzung, zur Entscheidung brachte. Jetzt wurde der Streik der 400 000, nach neun Monaten Vorbereitung, nach äußersten materiellen Opfern und Anstrengungen der Arbeiterklasse, nach Verlaufe von zehn Tagen abgebrochen, ohne etwas andres erreicht zu haben als eine unverbindliche Zusage einer unverbindlichen Kommission ohne gesetzgebende Kraft, die nach einer „einheitlichen Formel” für das Wahlrecht suchen darf.
Daß dies so vage und gewundene Ergebnis keinen glänzenden Sieg bedeutet und jedenfalls zu der Unsumme von Anstrengungen, Opfern und Vorbereitungen in keinem Verhältnis steht, darüber täuschen sich auch unsre belgischen Genossen gar nicht. Kein einziger von den Parteiführern machte auf dem Parteitag vom 24. April den Versuch, die Resolution des Parlaments über die besagte Kommission als einen namhaften politischen Sieg hinzustellen. Im Gegenteil, sie alle waren bemüht, das Schwergewicht der Bilanz über den zehntägigen Kampf nicht auf das parlamentarische Resultat, sondern auf den Verlauf des Generalstreiks selbst und seine moralische Bedeutung zu legen. „Drei Gesichtspunkte”, sagte Vandervelde (nach dem Bericht des „Vorwärts”), „kommen bei der Beurteilung des Generalstreiks in Frage. Der erste, der parlamentarische, ist am wenigsten wichtig.”[7] Die beiden andern aber seien: das politische Resultat, das in der Gewinnung der öffentlichen Meinung bestehe, und der soziale Gesichtspunkt, der in der Machtentfaltung des Proletariats und in dem friedlichen Charakter des Generalstreiks liege. „Wir kennen jetzt das Mittel”, rief Vandervelde, „das das Proletariat anwenden kann, wenn ihm sein Recht von der herrschenden Gewalt vorenthalten wird.”[8] Und Jules Destrèe ging sogar so weit, die ganze Frage nach dem direkten Resultat des Streiks als „parlamentarische Kleinlichkeit” abzutun:
„Warum übersehen Sie über den parlamentarischen Kleinlichkeiten und den Nuancen ministerieller Erklärungen die Hauptsache? Beachten Sie doch die Hauptsache, die jedermann sehen kann! Die prachtvolle Begeisterung, den Mut, die Disziplin unserer Bewegung.”[9]
Nun ist die ausgezeichnete Haltung der belgischen Arbeitermasse in dem letzten Generalstreik nichts weniger als eine Überraschung gewesen. Die Begeisterung, die Geschlossenheit, die Zähigkeit dieses Proletariats hat sich seit über zwanzig Jahren, namentlich auch im Gebrauch der Waffe des Massenstreiks, so häufig erprobt und bewährt, daß das Zustandekommen und der Verlauf des Aprilstreiks nur eine neue Bestätigung dieser alten Kampftüchtigkeit, keine neue Errungenschaft war. Freilich liegt ein großer Teil der Bedeutung jedes Massenstreiks in seinem Zustandekommen selbst, in dem Akt der politischen Massenaktion, der sich darin äußert – soweit es sich um spontane oder auf Geheiß der Partei in kurzer Zeit in der Kampfstimmung zustande kommende Kundgebungen handelt. Wo hingegen der Streik von sehr langer Hand ganz methodisch und systematisch vorbereitet wurde, und zwar ausdrücklich zu dem bestimmten politischen Zwecke, die seit zwanzig Jahren festgefahrene Frage der Wahlrechtsreform vorwärtszustoßen, da erscheint es etwas seltsam, den Streik gewissermaßen als Selbstzweck zu feiern, den eigentlichen Zweck aber, das parlamentarische Resultat, das erzwungen werden sollte, als nebensächliche Lappalie zu behandeln.
Diese Verschiebung in der Beurteilung der Situation ergab sich denn auch aus der Zwangslage, in der sich die belgische Bruderpartei nach anderthalb Wochen des Generalstreiks befand. Aus der ganzen Situation wie aus allen Reden auf dem Brüsseler Parteitag ergibt sich klar: Der Generalstreik wurde am 24. April nicht abgebrochen, weil man irgendeinen namhaften Sieg errungen zu haben wähnte, vielmehr nahm man den ersten Schein einer Konzession auf seiten des Parlaments eilends wahr, um seinerseits den Generalstreik abzurüsten, da man in den Führerkreisen das deutliche Gefühl hatte, daß die längere Dauer des Generalstreiks leicht ins uferlose gehen könnte, ohne doch ein namhafteres Resultat zu erzielen.
Soll man es den belgischen Parteiführern übelnehmen, daß sie für den Abbruch des Generalstreiks die erste Gelegenheit ergriffen, da ihnen seine Fortdauer aussichtslos und ungewiß erschien? Oder soll man ihnen verargen, daß sie nicht an die siegreiche Macht des unbestimmt und „bis zum Siege” fortgesetzten methodischen Streiks glaubten? Das gerade Gegenteil muß ausgesprochen werden: Schon lange vor Beginn des Aprilstreiks, schon nach der ganzen Art und Weise, wie dieser Streik vorbereitet wurde, im Zusammenhang mit den Schicksalen des Wahlrechtskampfes in Belgien und seiner Taktik in den letzten zehn Jahren mußte jeder aufmerksame Beobachter die stärksten Zweifel an der Wirksamkeit des neuesten Experiments hegen. Heute, wo die Probe aufs Exempel stattgefunden hat und wo die belgischen Genossen meinen, auf jeden Fall eine neue Waffe ihrem Arsenal auf die Dauer einverleibt zu haben, ist es an der Zeit, diese Waffe selbst zu prüfen. Es ist nötig, die Frage zu stellen, ob die Art und Weise, wie der Aprilstreik inszeniert worden ist, nicht selbst schon Keime seiner Unfruchtbarkeit in sich getragen hat und ob das einmalige Experiment nicht eher geeignet ist, zur Revision dieser Taktik als zu ihrer Nachahmung zu ermuntern.

II

Leipzig, 16. Mai

Der Massenstreik als Waffe des politischen Kampfes ist in Belgien bereits eine festgewurzelte Tradition. Dem Gebrauch dieser Waffe verdankt das belgische Proletariat die erste Bresche, die es in das Zensuswahlrecht[10] geschlagen hat. Die beiden großen Streiks von 1891 und 1893, die erst die Einsetzung der Wahlrechtskammern und dann die Einführung des Pluralwahlrechts[11] erzwungen hatten, waren aber auch spontane Äußerungen der Kampfstimmung der Partei, sie waren von jenem „stürmischen” Charakter, dessen Gegenteil der jetzige Aprilstreik mit Vorbedacht werden sollte. Der stürmische Charakter bestand übrigens durchaus nicht darin, daß die streikenden Massen etwa sinnlose Gewalttätigkeiten verübten oder zu solchen auch nur neigten, wie dies indirekt aus der starken Hervorhebung des durchaus friedlichen und gesetzlichen Charakters des jüngsten Generalstreiks durch die belgischen Parteiführer geschlossen werden könnte. Genauso vernünftig und „gesetzlich” wie im April dieses Jahres benahmen sich die streikenden Wahlrechtskämpfer im Jahre 1891 und 1893 auch. Wenn es in beiden letzteren Fällen dennoch an einigen Orten zu Straßentumulten und Blutvergießen gekommen war, so lag das ausschließlich an dem brutalen und provokatorischen Verhalten des Militärs und der sonstigen Regierungsorgane, die den Streikenden und Demonstranten mit schlotterndem Schrecken im Gebein und mit grimmigem Haß im Herzen entgegentraten. Der „stürmische” Charakter jener beiden kurzen und siegreichen Streiks lag denn auch nicht etwa in sinnlosen, von Arbeitern verübten „Ungesetzlichkeiten”, sondern darin, daß diese Massenstreiks Äußerungen einer entschlossenen, frischen und freudigen Kampfstimmung der Partei waren, die keine Schwankungen, kein Zagen, keine Rück- und Vorsichten kannte, die ins Feld rückte, ohne auf andres als auf die eigene Kraft des Proletariats und dessen Druck zu rechnen, und die allerdings bereit war, diesen Druck bis zu den äußersten Konsequenzen zu steigern, die revolutionäre Energie der Massen nötigenfalls zu ihrer vollen Wucht und Wirkung zu entfesseln. Es waren Massenstreiks, bei denen die Partei vom obersten Führer bis zum schlichten Soldat in Reih und Glied marschierte, von derselben freien und kühnen Kampfbegeisterung durchdrungen, völlig eins im festen Glauben an die Notwendigkeit und Wirksamkeit des eigenen Unternehmens.
Eine neue Wendung nahm jedoch die ganze Taktik der belgischen Partei in dem folgenden Jahrzehnt. Nachdem das Pluralwahlrecht der Arbeiterklasse die Tore des Parlaments eröffnet und eine stetig wachsende Zahl von Abgeordneten eingebracht hat, wurde der Schwerpunkt der politischen Aktion – auch des Kampfes um das gleiche Wahlrecht – ins Parlament verlegt. Gleichzeitig – was jedoch nur die andre Seite dieser Erscheinung – tritt ein ganz neuer Faktor, die Allianz mit der liberalen Bourgeoisie, als wichtiges Moment der sozialistischen Taktik auf den Plan. Es ist klar, daß dadurch in der Parteipolitik zwei widersprechende Elemente miteinander verkoppelt wurden: die außerparlamentarische Aktion der Masse und die parlamentarische Allianz mit dem Liberalismus. War der Massenstreik ein bewährtes, populäres, von dem Proletariat hochgeschätztes Kampfmittel, an dem es mit zäher Energie festhielt, so stand ihm von nun an die Rücksicht auf die parlamentarischen Bundesgenossen, die Liberalen, direkt entgegen, sowohl angesichts der allgemeinen, tiefgewurzelten Klassenabneigung der Besitzenden gegen proletarische Massenaktionen wie insbesondere, weil der Massenstreik in erster Linie naturgemäß die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie, also gerade der liberalen Alliierten, empfindlich traf.
Dadurch kam in die Politik der sozialistischen Partei eine gewisse Zwitterhaftigkeit, Unsicherheit und Halbheit. Den deutlichen Ausdruck bekam dieser Zustand in der verunglückten Kampagne des Jahres 1902, wo die Verkoppelung der Streikaktion der Masse mit der liberalen Allianz im Parlament erst die Parteiführer bewogen hatte, die Aktion der Masse nur als Schreckschuß zuzulassen, um sie dann so rasch als möglich nach Hause zu schicken, worauf dann naturgemäß auch die parlamentarische Aktion in sich zusammenbrechen mußte.
Das klägliche Fiasko des Experiments vom Jahre 1902 hat jedoch nicht dazu geführt, die belgische Partei von der verhängnisvollen Bundesgenossenschaft mit den Liberalen loszulösen und wieder ganz auf die proletarische Aktion zu konzentrieren. Umgekehrt, enttäuscht durch den verunglückten Massenstreik, dessen Unfruchtbarkeit jedoch diesmal in der eigenen Taktik der Partei wohlbegründet war, beschlossen die Parteiführer, sich nunmehr ausschließlich auf die parlamentarische Bühne zu beschränken. Da die Parlamentswahlen auch unter dem Pluralsystem die Vertretung der klerikalen Reaktion immer mehr zusammenschrumpfen ließen, so schien es ein einfaches Rechenexempel, in Geduld und bei ruhiger Agitation den Zeitpunkt abzuwarten, wo die klerikale Mehrheit in Minderheit umschlagen und der sozialistisch-liberale Block auf dem Wege einer schlichten Parlamentsmehrheit die Wahlreform durchführen würde. Die Waffe des Massenstreiks schien nunmehr eine ganz überflüssige und störende, veraltete Methode, die parlamentarische Reform und der „linke Block” die alleinseligmachende Kirche der Zukunft zu sein.
Diese einfache Rechnung hatte unglücklicherweise, wie alle so einfach scheinenden Spekulationen des Opportunismus, ein großes Loch: Sie rechnete nur mit Zahlen, nicht mit lebendigen Klassenverhältnissen. Und diese letzteren brachten es mit sich, daß der allgemeine Zug der Reaktion, der in Deutschland und überall die jüngste Entwicklung der Bourgeoisie bezeichnet, auch in Belgien sein stilles Werk vollbracht hat. Während die liberale Fraktion im Parlament Arm in Arm mit der sozialistischen um die Wahlreform stritt, kehrte ihr die Bourgeoisie im Lande den Rücken und ergriff in Massen die Flucht – ins klerikale Lager. Das Jahr 1912 wurde in den Blockspekulationen als das Jahr der wunderbaren „Erfüllung” bezeichnet. Nun, die Parlamentswahlen des Jahres 1912 brachten an Stelle des fest erwarteten Zusammenbruchs der Klerikalen – den Zusammenbruch des Liberalismus und sogar Verluste für die sozialistische Partei, während die klerikale Reaktion mit einer gestärkten Majorität im Triumphe wieder ins Parlament einzog.[12]
Die abermalig zehnjährige Periode der neuen Taktik schloß für die belgische Partei mit einer noch größeren Niederlage als schon im Jahre 1902. Kein Wunder, daß die Wut und der Schmerz der Enttäuschung die Masse der sozialistischen Arbeiter wie mit einem elektrischen Schlag wieder zu ihrer alten bewährten Waffe, zum Massenstreik, greifen ließen. Spontan, wie ein Sturm, erhob sich das belgische Proletariat nach den Wahlen im Juni 1912, um wieder durch eigene Kraft zu erringen, wozu sich die nurparlamentarische Taktik in zwanzig Jahren als völlig unfähig erwies. Doch da trat die sozialistische Fraktion, traten die Führer <202> der Partei mit aller Energie dazwischen, um vom Streik abzumahnen. Da sich der Sturm des Volkswillens nicht anders bannen ließ, schlug man den Arbeitern vor, den bereits begonnenen Massenstreik abzurüsten, um einen Massenstreik ganz systematisch vorzubereiten. Der vorbereitete, methodische Massenstreik erschien so von vornherein als ein Kompromiß zwischen der stürmenden Kampfenergie der Massen und der Streikabneigung der Parteiführer, die trotz aller bitteren Erfahrungen an der Allianz mit dem Liberalismus und an parlamentarischen Hoffnungen festhielten. Es war also wohlgemerkt nicht eine freie taktische Erfindung, die hier eine neue Streikmethode als die wirksamste ersonnen hatte. Die Vorbereitung zum Massenstreik von langer Hand erschien diesmal als ein Mittel, die Arbeitermassen zu beschwichtigen, ihre Kampfbegeisterung zu zähmen, sie von der Bühne vorläufig abtreten zu lassen. Und nun, nachdem alle Energie der Arbeiterschaft während sieben Monaten ausschließlich auf die Vorbereitung des Generalstreiks gerichtet wurde, war es die Parteiführerschaft, die sich bis zuletzt dem Beginn des Streiks mit aller Energie widersetzte, ihn möglichst hinauszuschieben suchte. Nachdem im Februar die strikte Ablehnung der Wahlreform im Parlament die Festsetzung des Generalstreiks auf den 14. April erzwungen hatte, suchten die Parteiführer noch im letzten Augenblick, im März, sich auf ein vermittelndes Dazwischentreten liberaler Bürgermeister stützend, den Streikbeschluß wieder aufzuheben. Im letzten Moment, als auch diese Hoffnung auf die liberale Mitwirkung wie eine Seifenblase zerplatzte, wurde der Streik nur unter dem unbezähmbaren Drang der ungeduldigen Masse und gegen die Abmachungen eines Teils der Führer beschlossen.
So kam der Aprilstreik schließlich nach neun Monaten Vorbereitung und nach wiederholten Versuchen, ihn zu verhindern und hinauszuschieben, mit Hängen und Würgen zustande. Materiell war er freilich so wohlvorbereitet wie noch kein Massenstreik der Welt. Wenn gefüllte Hilfskassen und gutorganisierter Nahrungsmittelvertrieb über den Ausgang einer Massenbewegung entscheiden würden, dann müßte der belgische Generalstreik im April Wunder wirken können. Die revolutionäre Massenbewegung ist aber leider kein Rechenexempel, das man mit den Kassenbüchern der Gewerkschaften oder in den Vorratsläden der Konsumgenossenschaften lösen kann. Das Entscheidende in jeder Massenbewegung ist die revolutionäre Energie der Massen und die entsprechende Entschlossenheit und Zielklarheit ihrer Führer. Diese beiden Momente zusammen können unter Umständen die größten materiellen Entbehrungen der Arbeiterschaft unfühlbar machen, über sie hinweg die größten Taten vollbringen. Sie können hingegen nicht umgekehrt durch gefüllte Hilfskassen ersetzt werden.

III

Der Hauptgedanke der belgischen Genossen bei der Vorbereitung des Aprilstreiks war, ihm jeden „stürmischen” Charakter zu nehmen, ihn von der revolutionären Situation gänzlich zu trennen, ihm den methodischen und streng umzirkelten Charakter eines gewöhnlichen Gewerkschaftsstreiks zu geben. Nicht darin, daß keine „Ungesetzlichkeiten” verübt worden sind, liegt das besondere Merkmal dieser Bewegung – auch in den 90er Jahren haben die streikenden Arbeiter, wie gesagt, genausowenig „Ungesetzlichkeiten” verübt wie diesmal; es waren in Belgien wie anderwärts stets nur „Hüter der Ordnung”, die Exzesse verübten und Exzesse provozierten. Der Unterschied liegt darin, daß die Massenstreiks der 90er Jahre spontane Bewegungen waren, geboren aus einer revolutionären Situation, aus der Zuspitzung des Kampfes und aus der aufs höchste gespannten Energie der Arbeitermassen. Spontan nicht in dem Sinne etwa, daß sie chaotisch, planlos, zügellos und führerlos waren. Im Gegenteil war gerade in jenen beiden Streiks die Parteiführerschaft mit der Masse völlig eins, sie marschierte an der Spitze, leitete und beherrschte vollkommen die Bewegung, gerade weil sie völlig mit dem Pulsschlag der Masse in Kontakt war, sich ihm anpaßte, nichts als Mundstück, als bewußter Ausdruck für die Gefühle und die Bestrebungen der Masse war. Spontan waren jene Streiks darin, daß sie unmittelbar auf eine politische Situation reagierten, Schlag auf Schlag den Kampf beantworteten und daß sie mit frei entfesselter Energie, auf alle Konsequenzen und Eventualitäten des Kampfes gefaßt, die ganze Wucht der Massenaktion in die Waagschale warfen.
Daß in so gearteten Massenstreiks ein starker revolutionärer Funke zittert, daß sie bei entsprechender leicht entzündbarer Situation, auf einer gewissen Höhe der Spannung der Gegensätze, unter Umständen zu offenen Zusammenstößen mit der herrschenden Gewalt führen können, ist außer Zweifel. Aber nicht minder sicher ist es, daß gerade der Druck so gearteter Streiks am raschesten seine Wirkung ausübt und die herrschenden Klassen in der Regel zum Zurückweichen zwingt, bevor sich noch die äußersten Konsequenzen, bevor ein allgemeiner Zusammenstoß mit der Staatsmacht sich aus der Situation ergibt. Der Verlauf der belgischen Streiks von 1891 und 1893 bestätigt dies vollkommen. Genauso genügte im Jahre 1905 die spontane Bewegung des österreichischen Proletariats unter dem ansteckenden Beispiel der russischen Revolutionskämpfer, um die Machthaber zum Zurückweichen zu zwingen, bevor noch eine gewaltsame Auseinandersetzung mit ihnen nötig wurde. Dasselbe beweisen zahlreiche andre Fälle aus der Praxis des internationalen Proletariats in den letzten fünfzehn Jahren: Nicht die Anwendung der physischen Gewalt, wohl aber die revolutionäre Entschlossenheit der Massen, in ihrer Streikaktion nötigenfalls vor den äußersten Konsequenzen der Kampfsituation nicht zurückzuschrecken und alle Opfer zu bringen, verleiht dieser Aktion an sich eine so unwiderstehliche Gewalt, daß sie häufig den Kampf in kurzer Frist zu namhaften Siegen zu führen vermag.
Dem Aprilstreik in Belgien lag gerade umgekehrt der Gedanke zugrunde, jede revolutionäre Situation zu vermeiden, jede Unberechenbarkeit, jede unvorhergesehene Wendung des Kampfes auszuschalten, mit einem Wort, jedes Risiko und jede Gefahr von vornherein auszuschließen und den ganzen Feldzug fast ein Jahr vorher in allen Einzelheiten festzulegen. Aber gerade damit haben die belgischen Genossen ihrem Generalstreik die eigentliche Stoßkraft genommen. Die revolutionäre Energie der Massen läßt sich nicht auf Flaschen ziehen, und ein großer Volkskampf läßt sich nicht wie eine Militärparade führen. Hier heißt es: entweder – oder. Entweder führt man einen politischen Sturm der Massen herbei, richtiger – da ein solcher sich nicht künstlich herbeiführen läßt – entweder läßt man die erregten Massen im Sturm ausziehen, dann muß alles getan werden, was diesen Sturm unwiderstehlicher, gewaltiger, konzentrierter macht, dann darf man den Sturm nicht, just wenn er losbricht, auf neun Monate vertagen, um ihm inzwischen eine Marschroute vorzubereiten. Oder man will keinen Massensturm – dann ist ein Massenstreik aber im voraus ein verlorenes Spiel. Sollten im April, wie die Führer auf dem Parteitag versicherten, nur die Disziplin und der einige Wille der Arbeiterklasse demonstriert werden, dann war für eine Demonstration die zehntägige Dauer jedenfalls überflüssig und die neunmonatige Vorbereitung ein viel zu hoher Preis. Die belgischen Proletarier waren zu einer solchen Demonstration schon viel früher und mehrmals bereit. Sollte es aber ein Kampfstreik sein, dann war die Art und Weise seiner Ausführung wenig geeignet, ihn siegreich zu machen.
Es ist vor allem klar und durch die Geschichte der bisherigen Massenstreiks in verschiedenen Ländern bestätigt, daß, je rascher, je unvorbereiteter ein politischer Streik den herrschenden Klassen über den Kopf kommt, desto stärker die Wirkung und die Aussichten auf den Sieg. Kündigt die Arbeiterpartei drei Viertel Jahre im voraus die Absicht an, einen politischen Streik zu inszenieren, so gewinnt nicht nur sie, sondern doch auch die Bourgeoisie und der Staat vollauf Zeit, sich materiell und psychologisch auf das Ereignis vorzubereiten. Übrigens hatte die lange, emsige Spartätigkeit der belgischen Proletarier, die an sich so bewundernswert in ihrem Idealismus war, die unbequeme materielle Seite, daß sie die ökonomischen Interessen des Kleinbürgertums, der Krämer und Händler, die ganze Zeit über schwer traf, der Schicht, deren Sympathien der Arbeiterschaft am ehesten gehören, während die Großbourgeoisie bei der langen Vorbereitung gerade in hohem Maße dem Schlag entgehen konnte, mit dem sie jeder spontane Massenstreik in erster Linie trifft.
Sodann gehört zur Wirksamkeit jedes politischen Kampfstreiks die Mitwirkung der Beschäftigten in öffentlichen Diensten. Wollten die belgischen Genossen – was sich aus ihrer Absicht eines langen, friedlichen Streiks ergibt – auf das Stillegen der öffentlichen Dienste verzichten, dann nahmen sie ihrem Streik freilich jeden „ungesetzlichen Charakter”, aber auch im voraus die rasche zwingende Gewalt und den Schrecken für die Öffentlichkeit und den Staat.
Mit einem Wort, gerade alle die Eigenschaften des Aprilstreiks, die ihm nach der Absicht der belgischen Partei den methodischen Charakter einer Gewerkschaftsaktion verleihen sollten, haben ihm die Wirksamkeit als politischer Streik in hohem Grade benommen.
Aber noch mehr: Wir haben aus der Geschichte des Wahlrechtskampfes in Belgien gesehen, daß die Parteiführer den Massenstreik eigentlich seit etwa fünfzehn Jahren verpönen, ihn stets abzuschieben, zu verhindern suchen. Im Schlußresultat hat jedoch diese Taktik merkwürdigerweise das gerade Gegenteil bewirkt: Der im Moment des stürmischen Losbrechens immer wieder gebannte Massenstreik ist nun zum ständigen Damoklesschwert – nicht bloß der Reaktion, sondern auch der Partei geworden. Schon seit neun Monaten war das Leben der belgischen Partei durch die Vorbereitungen zum Massenstreik völlig im Bann gehalten. Nachdem im April der Streik auf einen ersten Schatten einer Konzession hin abgebrochen wurde, hat die Partei ihn schon auf dem Parteitag vom 24. April selbstverständlich für die weiteren Schritte in Aussicht stellen müssen. Dieselbe Taktik, die jedes stürmische Treffen der Masse mit der Reaktion verpönte, hat die Massenstreikdrohung zum chronischen Zustand gemacht.
Daß damit in der Masse übertriebene Illusionen in bezug auf die Wirksamkeit des politischen Massenstreiks unwillkürlich genährt werden, scheint unvermeidlich zu sein. Auf diese Illusionen kann aber unter den gegebenen Umständen sehr leicht Enttäuschung folgen. Der politische Massenstreik ist eben nicht an sich, abstrakt genommen, ein wundertätiges Mittel. Er ist wirksam nur im Zusammenhang mit einer revolutionären Situation, als Äußerung einer hohen, konzentrierten revolutionären Energie der Massen und einer hohen Zuspitzung der Gegensätze. Losgeschält von dieser Energie, getrennt von dieser Situation, verwandelt in ein von langer Hand beschlossenes, pedantisch nach dem Taktstock ausgeführtes strategisches Manöver, muß der Massenstreik in neun Fällen gegen zehn versagen.
Niemand wird in diesem Augenblick mit Sicherheit voraussagen können, welches die nächsten Schicksale der Wahlreform in Belgien sein werden. Vielleicht werden die belgischen Klerikalen, wie die Tories in England, klug genug sein, sich den erregten Zustand der Volksmassen zur Lehre zu nehmen, und sich auf den weiten Weg des Kompromisses begeben. Freilich verrät ihre bisherige Haltung wenig Zugänglichkeit für diese großzügige Politik. Sollten sie aber bei ihrer reaktionären Brutalität nach dem Muster der ostelbischen Junker verharren, dann dürfte nur ein Massensturm des Proletariats diese Halsstarrigkeit zu brechen geeignet sein, wie er sie schon 1891 und 1893 gebrochen hat. Dann aber dürfte es sich unsres Erachtens auch für unsre belgische Bruderpartei als eine Lehre aus ihrem jüngsten Experiment ergeben: Nur die Rückkehr zur Taktik der stürmischen, von jeder Rücksicht auf die liberale Bundesgenossenschaft freien Massenbewegung, nur die Entfesselung der vollen revolutionären Energie des Proletariats kann diese Zwingburg in Trümmer legen. Auf keinen Fall läßt sich das Aprilexperiment für die belgische Partei oder für die Internationale als eine empfehlenswerte Neuerung in der Handhabung des politischen Massenstreiks empfehlen.
Doch mag man das Vorgehen der belgischen Genossen kritisieren und beurteilen, wie man will, eine beschämende Lehre und ein Beispiel haben sie vor allem uns in Deutschland gegeben. Die belgische Partei experimentiert mit dem Massenstreik, aber sie versucht unter Aufbietung aller Kraft alle Mittel der Massenaktion. In Preußen hingegen ist auf die aufrüttelnden Worte des preußischen Parteitags Januar 1910[13], auf die denkwürdigen anfeuernden Worte Singers erst im Frühjahr 1910 eine kurze Demonstrationskampagne gefolgt, die jedoch, nachdem sie den schönsten Anlauf genommen hatte, von der Partei einfach an den Nagel gehängt wurde. Seitdem werden wir von Landtagswahlen auf Reichstagswahlen und von Reichstagswahlen auf neue Landtagswahlen vertröstet. Das belgische Beispiel sollte jedoch für unsre Partei weniger ein Anlaß zu einer kritiklosen „Bewunderung” und mehr ein praktischer Anstoß sein, auch der ostelbischen Reaktion gegenüber einmal das Wort zu beherzigen: Hier hilft kein Mundspitzen, hier muß gepfiffen werden!

Leipziger Volkszeitung,
I: Nr. 109 vom 15. Mai 1913,
II: Nr. 110 vom 16. Mai 1913,
III: Nr. 112 vom 19. Mai 1913.

Fußnoten
  1. Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.
  2. Durch den Massenstreik von 250 000 Arbeitern in Belgien im April 1893 war die Regierung gezwungen worden, das Zensuswahlrecht (Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, bei dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. Mindesteinkommen oder Geschlechtszugehörigkeit, das aktive Wahlrecht besitzen.) abzuschaffen und das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum einzuführen. (Das Pluralwahlrecht ist ein undemokratisches Wahlrecht, bei dem Wähler mit besonderen Voraussetzungen, wie hohes Einkommen, höhere Schulbildung usw., mehr als eine Stimme abgeben können. Gegenüber dem Zensuswahlrecht war es ein Fortschritt.)
  3. Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik von etwa 300 000 Arbeitern zur Verbesserung des Wahlrechts begonnen. Er war am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei, die mit den Liberalen eine Allianz eingegangen war, abgebrochen worden, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.
  4. In Schweden war auf Beschluß der Sozialdemokratie vom 15. bis 17. Mai 1902 ein politischer Massenstreik durchgeführt worden, um der Forderung nach einer Wahlrechtsreform Nachdruck zu verleihen. Der Streik, an dem sich etwa 116 000 Arbeiter beteiligten, wurde ohne Ergebnis abgebrochen, nachdem beide Kammern des Reichstags in einer Resolution die Regierung aufgefordert hatten, bis 1904 eine neue Wahlrechtsvorlage einzubringen.
  5. Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 dem Parlament ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.
  6. Emile Vandervelde: Der Generalstreik in Belgien. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 102 vom 28. April 1913.
  7. Der belgische Parteitag. In: Vorwärts, Nr. 100 vom 26. April 1913.
  8. Ebenda.
  9. Ebenda.
Quelle

Aus: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 195–207.