Diese Seite benötigt einen modernen Browser

Schriften

Eine Ehrenpflicht

Für  die  politischen Opfer der  alten Reaktionsherrschaft  wollten wir keine »Amnestie«, keine Gnade. Unser  Recht auf Freiheit, Kampf und Revolution forderten wir für jene Hunderte Treuer und  Braver, die in  Zuchthäusern und Gefängnissen schmachteten, weil sie unter  der  Säbeldiktatur  der  imperialistischen Verbrecherbande um Volksfreiheit, Frieden, Sozialismus kämpften. Sie sind nun alle frei. Wir stehen wieder  in  Reih und Glied, zum Kampf bereit. Nicht  die  Scheidemänner mit ihren bürgerlichen Kumpanen und dem Prinzen  Max an der  Spitze  haben uns befreit,  die  proletarische Revolution hat  die Tore  unserer Kasematten gesprengt.

Aber  eine andere Kategorie trauriger Insassen jener düsteren Häuser  ist  völlig vergessen worden. Niemand hat bis jetzt  an die  Tausende bleicher, abgezehrter Gestalten gedacht,  die  hinter  den  Mauern  der  Gefängnisse und Zuchthäuser zur Sühne für gemeine Vergehen jahrelang schmachteten.

Und doch sind  es  unglückliche Opfer  der  infamen Gesellschaftsordnung, gegen  die  sich  die  Revolution richtete, Opfer  des  imperialistischen Krieges,  der  Not und Elend zur unerträglichen Folter gesteigert,  der  durch  die  bestialische Menschenschlächterei  in  schwachen, erblich belasteten Naturen alle bösen Instinkte entfesselt hat.

Die  bürgerliche Klassenjustiz erwies sich wieder einmal  als  das Netz, durch dessen Maschen räuberische Hechte bequem herausschlüpfen, während kleine Stichlinge darin hilflos  verzappeln.  Die  millionenreichen Kriegswucherer kamen meist straffrei  oder  mit lächerlichen Geldstrafen davon,  die  kleinen Diebe und Diebinnen wurden mit drakonischen Freiheitsstrafen gezüchtigt.

Bei Hungerkost, in den  kaum geheizten Zellen vor Kälte zitternd,  von den  vierjährigen Schrecken  des  Krieges seelisch niedergedrückt, warteten diese Stiefkinder  der  Gesellschaft auf Gnade, auf Linderung.

Sie warteten umsonst.  Der  letzte Hohenzoller hatte  die  Elenden  als  guter Landesvater über  den  Sorgen  des  Völkergemetzels und  der  Kronenverteilung vergessen. Seit  der  Eroberung Lüttichs gab  es  während  der  vier Jahre keine nennenswerte Amnestie mehr, nicht einmal zum offiziellen Feiertag  der  deutschen Sklaven, zum »Kaisergeburtstag«.

Nun  muß  die  proletarische Revolution durch einen kleinen Strahl ihrer Gnade das düstere Dasein  in den  Gefängnissen und Zuchthäusern erhellen,  die  drakonischen Strafen abkürzen,  das barbarische Disziplinarsystem – Kettenarrest, Prügelstrafe!! – ausrotten,  die  Behandlung,  die  ärztliche Versorgung,  die  Ernährungs- und Arbeitsverhältnisse nach Kräften aufbessern.  Es  ist  eine Ehrenpflicht!

Das bestehende Strafsystem, das durch und durch  den  brutalen Klassengeist und  die  Barbarei  des  Kapitalismus atmet,  muß  einmal mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Eine grundsätzliche Reform  des  Strafvollzugs  muß  sofort  in  Angriff genommen werden. Ein völlig neues, dem Geiste  des  Sozialismus entsprechendes kann freilich erst auf dem Fundament einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung errichtet werden. Wurzeln doch Verbrechen wie Strafe stets  in  letzter Linie  in den  wirtschaftlichen Verhältnissen  der  Gesellschaft. Doch eine einschneidende Maßnahme kann ohne weiteres durchgeführt werden:  Die Todesstrafe, diese größte Schmach  des  stockreaktionären deutschen Strafkodex,  muß  sofort verschwinden! Weshalb zögert  man  damit  in der  Arbeiter-und-Soldaten-Regierung?  Ledebour,  Barth,  Däumig, hat  der  edle  Beccaria,  der  vor zweihundert Jahren  in  allen zivilisierten Sprachen  die  Ruchlosigkeit  der  Todesstrafe denunzierte, für euch nicht gelebt? Ihr habt keine Zeit, habt tausend Sorgen, Schwierigkeiten, Aufgaben vor euch.  Gewiß. Nehmt aber  die  Uhr  in die  Hand und seht, wieviel Zeit  es  erfordert,  den  Mund aufzutun und zu sagen:  Die  Todesstrafe ist  abgeschafft ! Oder  wie, könnte  es  unter euch auch darüber eine  lange  Debatte mit Abstimmung geben? Würdet ihr euch etwa auch  in  diesem Falle  in  das lange Schleppkleid  der  Formalien, Kompetenzbedenken, Stempel- und  Rubrikenfragen  und dergleichen Plunder verwickeln?

Ach, wie ist diese  deutsche  Revolution – deutsch! Wie ist sie nüchtern, pedantisch, ohne Schwung, ohne Glanz, ohne Größe.  Die  vergessene Todesstrafe  ist  nur ein kleiner, einzelner Zug.  Aber  wie pflegt sich gerade  in  solchen kleinen Zügen  der  innere Geist  des  Ganzen zu verraten!

Man nehme ein beliebiges Geschichtsbuch der Großen Französischen Revolution, man nehme den trockenen  Mignet. Kann man dieses Buch  anders als mit klopfenden Pulsen und brennender Stirn lesen, kann man es aus der Hand legen, wenn man es an beliebiger Stelle aufgeschlagen, bevor man in atemloser Spannung den letzten Akkord des gewaltigen Geschehens hat ausklingen hören? Es ist wie eine  Beethovensche  Symphonie ins Gigantische gesteigert, ein brausender Sturm auf der Orgel der Zeiten, groß und prächtig im Irrtum wie im Gelingen, im Sieg wie in der Niederlage, im ersten naiven Aufjubeln wie im letzten verhallenden  Seufzer. Und jetzt bei uns in Deutschland? Auf Schritt und Tritt, im Kleinen wie im Großen spürt man: Es sind noch die alten braven Genossen aus den Zeiten der selig entschlafenen deutschen Sozialdemokratie, für die das Mitgliedsbüchlein alles, der Mensch  und der Geist nichts war. Vergessen wir aber nicht: Weltgeschichte wird nicht gemacht ohne geistige Größe, ohne sittliches Pathos, ohne edle Geste.

Liebknecht und ich haben beim Verlassen  der  gastlichen Räume, worin wir jüngst hausten – er seinen  geschorenen Zuchthausbrüdern, ich meinen lieben armen Sittenmädchen und Diebinnen, mit denen ich dreieinhalb Jahre unter einem Dach verlebt habe —, wir haben ihnen heilig versprochen, als sie uns mit traurigen Blicken begleiteten: Wir vergessen euch nicht!

Wir fordern vom Vollzugsrat  des  Arbeiter- und Soldatenrates eine sofortige Linderung  des  Schicksals  der  Gefangenen  in  allen Strafanstalten Deutschlands!

Wir fordern  die  Ausmerzung  der  Todesstrafe aus dem deutschen Strafkodex!

Blut ist  in den  vier Jahren  des  imperialistischen Völkermordes  in  Strömen,  in  Bächen geflossen. Jetzt  muß  jeder Tropfen  des  kostbaren Saftes mit Ehrfurcht  in  kristallenen Schalen gehütet werden. Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit –  dies  allein ist  der  wahre Odem  des  Sozialismus. Eine Welt  muß  umgestürzt werden, aber jede Träne,  die  geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage, und  ein zu wichtigem Tun  eilender Mensch,  der  aus roher Unachtsamkeit einen armen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.

Quelle

Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 3, 18. November 1918.
Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin 2000, S. 404-406.