Diese Seite benötigt einen modernen Browser

Briefe

Rosa Luxemburg an Hanna-Elsbeth Stühmer

Wronke, 10. März 1917

Ein Auszug aus diesem Brief kann hier gehört werden.

Als ich das erste Mal als Schutzhaftgefangene  in  der Barnimstraße in den sog. Lazaretthof zur Freistunde hinunterging, fand ich dort eine Dame von üppiger Gestalt, in feiner Kleidung, an den Fingern u. am Busen einen kleinen Juwelierladen, der bei jeder ihrer Bewegungen funkelte. Mürrisch, mit verkniffenem Munde und gefurchter Stirn, lief sie rastlos in dem kleinen Hof immer im Kreise; die Blicke auf den Boden geheftet, mit den lauten, klopfenden Schritten ihrer hochmodernen Stelzpantoffelchen gleichsam gegen die bittere Ungerechtigkeit der Welt und der Militärbehörde protestierend. Als sie meiner unscheinbaren Person ansichtig ward, betrachtete sie mich eine Zeitlang mit kurzsichtig zusammengekniffenen Augen, stellte sich dann doch vor u. klagte sofort laut ihr Leid. Der bekannte, typische Fall: eifersüchtige Freundinnen – alte Rache – anonyme Denunziation wegen »deutschfeindlicher Gesinnung« – Verhaftung – Schutzhaft… »Und nun sitze ich hier in diesem elenden Loch, soll hier bei schönstem Sommerwetter sitzen, ich, die ich ohne die Natur nicht leben kann!«[1]  Und sie erzählte  mir, wie sie jedes Jahr eine kostspielige Reise  unternehme, um die Sonnenuntergänge in den Tiroler Alpen zu bewundern. Bis zu Tränen konnten sie diese Sonnenuntergänge rühren…

Es war klar: die Dame lebte der felsenfesten Überzeugung, daß die Natur in den Tiroler Alpen beginnt, und zwar mit einem effektvollen Sonnenuntergang. Hätte man ihr gesagt, daß sie hier, in der Barnimstrasse Nr. 10, wo sie stand u. ging, von Morgen bis Abend mitten in der Natur war, sie hätte sicher gedacht, daß man sich über sie lustig mache. Ich schwieg, lächelte höflich und empfahl mich.

Nun möchte ich Sie, schöne Dame, zu einem kleinen Spaziergang mit mir in diesem winzigen Reich der Natur einladen. Ich kenne Ihre holden Züge nicht, doch was verschlägt’s? Ich weiß genug, um das Lieblichste zu ahnen. Darf ich wie Leporello im Mozartschen Don Juan, als er vor Donna Elvira das berühmte »Register« aufrollt, mit artiger Verbeugung singen: »Edle Donia, wenn gefällig, so gehen wir’s durch, – wenn gefällig – so gehen wir’s durch!…«

Das erste, was sich an 365 Tagen beim Aufstehen meinen Blicken bot,  ist die graue verwitterte Rückwand mit der großen halb verwaschenen Aufschrift: »Timners Essigfabrik«. Der rußige Kamin dieses Gebäudes raucht fleißig und schwängert die Luft im Gefängnis ständig mit einem leisen süßlich-säuerlichen Geruch, der manchmal – an trüben Tagen –  vernehmlich im Halse kratzt. Rechts und links von der Fabrik eine bunte Reihe  ganz alter Mietshäuser, deren kleine Fenster mit schwindsüchtigen Geranientöpfen, Kanarienkäfigen u. Säuglingswäsche geziert sind u. aus denen je nachdem Kindergeschrei, Zank u. Schlägerei, Gitarrengeklimper oder ein schnarrendes Grammophon zu hören sind.

Kennen Sie, gnädige Frau, den »Phantasus« von Arno Holz? Der Anfang lautet:

»Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,
vom Hof her stampfte die Fabrik,
es war die richtige Mietskaserne
mit Flur- und Leiermannsmusik!

Im Keller nistete die Ratte,
parterre gabs Branntwein, Grog und Bier,
und bis ins fünfte Stockwerk hatte
das Vorstadtelend sein Quartier.«[2]

Aber über der gebrochenen Linie dieser Dächer, die alle gen Osten liegen, gibt es jeden Morgen ein Schauspiel, das seit der Erschaffung der Welt das schönste u. erhabenste ist: den Sonnenaufgang.

Spätherbst. ½ 6 Uhr früh. Das Haus schlummert noch – nur eine Sekunde noch in Ruhe, bevor der klirrende, klappernde, schlüsselrasselnde, polternde Lärm von 500 menschlichen Existenzen wie eine ungeduldige Sturzwelle den Damm der Nachtruhe niederreißt u. alle Winkel des Riesengebäudes füllt. Noch eine Sekunde. In diesen letzten Zügen der sterbenden Nacht sehen Sie dort oben auf dem Giebel des Hauses die winzige Silhouette eines Vogels schimmern, u. hören Sie sein süßes Gestammel? Das ist der Star, der jeden Morgen zusammen mit mir auf das große Schauspiel wartet.

Wohlan, es beginnt! Dort sehen Sie, gnädige Frau, über Timners Essigfabrik, wie sich der dunkelgraue Himmel rosig färbt? Plötzlich schießt von dort ein rosiger Blitz in die Höhe, eine ganze Schar Wölkchen entzündet sich an ihm immer stärker, bis zur brennenden Glut. Der halbe Himmel flammt schon u. schwingt feurige Fackeln. Und in der Mitte, gerade über dem Kamin der Essigfabrik, bricht in der blutroten Flut das erste strahlende Gold leuchtend hervor.

Es ist wie eine Wagnersche Ouvertüre. Erst zirpen die Geigen allein ihre Skala vom höchsten, dünnsten Ton herunter, immer eiliger, immer dringender, – dann greift der große mächtige volle Ton der Oboe mit dem Leitmotiv ein, dann mischen sich Bässe, Flöten, Klarinetten ein, dann dröhnen  Pauken, – endlich tutti – das gesamte Orchester braust in die Höhe – ein Triumph, ein Jubel, ein Hymnus! … So spielt und triumphiert und jubelt lautlos das Farbenorchester am Himmel über den düsteren Mauern in der Barnimstrasse. Die Sonne, die Sonne steigt  auf über Timners Essigfabrik! Heil dir, du alte, ewig junge Sonne, sei mir gegrüßt! Wenn du mir nur hold bleibst, wenn ich dein goldenes Antlitz sehe, was schert mich Gitter und Schloß? Bin ich nicht frei wie jener Vogel am Dachfirst, der dir dankbar zujubelt wie ich? Und wenn ich vielleicht einmal, in der Feuersbrunst einer russischen Revolution, zum Galgen geführt werde, leuchte Du mir nur auf dem schweren Gang, und ich werde zu meiner letzten Erhöhung heiter lächelnd schreiten, wie zum Hochzeitsschmaus.

7 Uhr. Ich darf schon hinunter in den Hof – bis 10 Uhr ganz allein. Schöne Dame, wollen Sie mir folgen? Hier unten sehen Sie die viereckige einfache Grasfläche, in der Mitte nur eine einzige große Rüster u. an den Seiten ein paar Sträucher. Das ist alles. Doch welcher Reichtum, wenn man näher zusieht!

Hier gleich im tauigen Gras, wenn Sie sich bücken wollen, gnädige Frau! Sehen Sie diese Mengen grüner Kleeblätter? Merken Sie, wie seltsam matt sie schillern – bläulich, rosig, perlmuttgrau. Woher das kommt? Jedes Blättchen ist mit ganz kleinwinzigen Tröpfchen Tau bedeckt, in ihnen bricht sich das schräge Morgenlicht u. gibt den Blättchen den irisierenden Regenbogenschimmer. Haben Sie schon versucht, aus solchen einfachen dreiblättrigen Kleestengeln ein Sträußchen zu binden? In einer kleinen Vase oder im Glas wirken sie reizend. Alle scheinbar ganz gleich u. doch bei näherer Prüfung jedes Blättchen ein wenig anders, wie es auch am Baum in Wirklichkeit nicht zwei ganz gleiche Blätter gibt. Größer u. kleiner,  heller u. dunkler, bieten die Kleeblättchen mit ihrem edlen Oval der Form ein mannigfach belebtes Bild. Als ich zum ersten Mal ein solches Sträußchen Kleeblätter der Frau Vorsteherin zum Morgengruß sandte, frug sie nachher interessiert: woher ich’s denn hätte? Die Damen alle haben keine Ahnung, was alles in ihrem eigenen Hof wächst u. gedeiht, u. jedes Mal, wenn ich dort mit bescheidensten Mitteln u. etwas Kunst einen ansehnlichen Strauß zustande brachte, frug man erstaunt: woher? Seitdem sind freilich die  Kleesträußchen sehr en vogue gekommen, u. ich sah mit Freuden an manchem Morgen die eine oder die andere der Damen sich selbst im Hofe bücken und eilig eine Handvoll der Dreiblättrigen sammeln …

Nun raffen Sie, gnädige Frau, Ihre Röckchen u. machen wir einen vorsichtigen Schritt ins nasse Gras zu jenen Sträuchern dort. Kennen Sie die Weigelia – den beliebten Zierstrauch Norddeutschlands, mit den üppigen Trauben zierlicher rosiger Glöckchen? Sie duften nicht, erfreuen aber das Auge, und auch das große grüne Laub ist nicht ohne Schönheit. Die obersten jungen Blätter ragen, wie Sie sehen, in schmale Tütchen zusammengerollt in die Höhe. Darf ich Ihnen einen Ast mit solchen Tütchen an der Spitze zu Ihnen hinabbeugen? Blicken Sie, bitte, vorsichtig hinein! Dort drinnen schläft jemand in der Tiefe versteckt: ein rotes Marienkäferchen mit fünf schwarzen Pünktchen auf dem Rücken. In jedem Blatttütchen der Weigelia können Sie um diese Morgenstunde im Herbst ein Marienkäferchen entdecken. Es ist noch zu naß u. zu kalt in der Frühe, u. man pflegt sich, bis die Sonne höher steigt, dem süßen Morgenschlummer zu ergeben…

Husch-husch, lassen wir die Äste behutsam wieder sich aufrichten u. entfernen wir uns auf Fußspitzen leise, um die kleinen Langschläfer nicht zu stören…

Nun zu dem grünen Kreuzdorn drüben! Wollen Sie hier das dünne braune Ästlein abbrechen? Sie greifen tapfer zu u. fahren erschreckt zurück. Pfui, wie weich und klebrig fühlt sich das an! Das »Ästlein« krümmt sich nun in der Luft, ärgerlich über  die unverhoffte Ruhestörung. Ja, gnädige Frau, verzeihen Sie mir den kleinen Scherz: Es war eine Raupe. Und betrachten Sie, bitte, diesen erstaunlichen Fall von Mimikry, die trotz Darwin u. den anderen ein förmliches Rätsel bleibt. Sie sehen am Kreuzdorn,  wie an jedem Strauch, verschiedene Zweige. Die jüngsten sind dünn, zimtbraun, glatt und glänzend. Die älteren dicker, graubraun und stumpf in der Farbe. Und nun das Wunder: An jedem Zweiglein sitzt eine genau in Umfang u. Farbe angepasste Raupe: hier an dem jungen Trieb eine schlanke hellbraune, dort an dem älteren Ast eine ins Graue spielende dicke. Ja, bitte, hier an der Seite finden Sie einen sogenannten »geilen Trieb«, wie er im Herbst auch an schlecht gepflegten Rosenstöcken hervorzuschießen pflegt: ein dicker, weißlich-grüner Ast, der sich plump wie ein Stock über die anderen erhebt reckt. Und wahrhaftig! An diesem sitzt eine entsprechend dicke weißgrüne Raupe, die nur aus nächster Nähe u. für ein gewitzigtes Auge von dem Strauch zu unterscheiden ist.

Was sagen  Sie dazu, gnädige Frau? Für ihre eigene Form u. Farbe können die kleinen Viecher freilich nichts, hier ist die große »Natur«, oder das X, das wir so nennen, die Wundertäterin. Aber in der Wahl gerade des zu eigener Tracht passenden Ästleins ohne Spiegel, an das sich jedes Tierchen klammert. Darin liegt doch schon eine Art Unterscheidungsvermögen, ein zielbewußter Täuschungsversuch, der beinahe das Strafgesetzbuch streift und in das Gebiet die Kompetenz Ihres Brüderleins hinüberspielt! … Nicht genug. Auch die ganze Körperhaltung: der spitze Winkel zum Ast, in dem sich jede Raupe als »Nebenästlein« heftet, die starre unbewegliche Stellung in der Luft: mit dem ganzen Raffinement ist es auf die Täuschung der scharfen Vogelaugen abgesehen, die in der Höhe lauern.

Faßt man eine solche Raupe mit den Fingern, dann zuckt sie ungeduldig, u. über ihren kleinen walzförmigen Körper gleiten rötliche Wellen wie Zornröte; sie sucht sich schnell dem Störenfried zu entziehen u. wieder in ihrer buddhistischen Fakirstellung zu erstarren, die sie für die einzige angenommene u. würdige hält. So lassen wir sie in Ruhe.

Die Sonne ist inzwischen hoch hinauf gestiegen, u. ihre Strahlen treffen schon die kleine Zwergmispel dort an der Außenpforte. Kennen Sie, gnädige Frau, diesen hübschen Zierstrauch mit seinen myrtenähnlichen lederartig glänzenden Blättchen, die an jedem Zweig so gleichmäßig angeordnet sind, daß sie  einen fertigen Brautkranz bilden? Wie schön würde sich ein solcher grüner Kranz um Ihr Köpfchen machen, das ich mir im üppigen Schmuck von dunklem Haar denke! Diese Zwergmispel hat aber nicht bloß mein Gefallen erregt: eine große Kreuzspinne hat sie sich zur Residenz erkoren. Sehen Sie hier unten zwischen den Zweigen senkrecht das riesige tadellose frisch geknüpfte Netz? Wie kunstvoll u. bewußt ist es direkt gegen das Sonnenlicht gestellt, damit die leichtsinnig dahinstürmende Fliege, vom Licht geblendet, todsicher in der Schlinge sich verfängt! Wie herrlich klar u. mathematisch genau zeichnet sich das tückische Netz in dem goldig-blauen Duft des Herbstmorgens! Der Lufthauch spielt leicht mit dem schwanken Bau, der sich biegt u. erzittert, u. doch nicht zerreißt, wie eine moderne elastische Hochgebirgsbrücke aus feinstem Stahlgeflecht – ein Wunder der Ingenieurkunst. Dort in der Ecke sitzt zusammengekauert die dickbauchige Kreuzspinne, freut sich ihres Werkes u. wartet zähneklappernd auf ein fettes Frühstück…

Nun es auf Mittag geht, ergreife ich endlich meinen Homer u. »ziehe mich zurück« in die Zelle. Der gute Homer lag die ganze Zeit geduldig  dort auf der Bank. Sie kennen wohl auch die wunderbare Wirkung eines guten Buches, das man in Handweite hat und das man – gar nicht liest. Wie oft suche ich mir zur Nacht ein recht schönes Buch aus, das mich sanft in den Schlaf wiegen soll. Manchmal währt’s lange, bis ich  was Richtiges gefunden habe. Dann lege ich’s auf’s Tischchen neben dem Bett u. – rühre es nicht an. Seine Nähe genügt wohl allein. So begleitet mich hier die Ilias jeden Morgen auf meinem Spaziergang im Hof, aber weiter als bis zur Schmährede des buckligen Thersites bin ich in diesem Herbst nicht gekommen. Was liegt auch daran? Thersites ist schon lange tot, die Kreuzspinne aber lebt, sie teilt mit mir den kurzen Augenblick, der uns beiden von den Göttern zum Dasein beschieden ist.

Ein Nachmittag im Gefängnis vergeht sehr schnell. Jetzt im Herbst hat schon die Stunde um 4 Uhr deutlich die Färbung des nahenden Sonnenuntergangs. Und gerade diese letzte schöne Stunde des vollen Sonnenlichts wählen sich jeden Tag die Tauben, die drüben auf dem Hause neben der Essigfabrik nisten, zu einem fröhlichen Gesellschaftsflug. Schauen Sie, gnädige Frau, wie sie immer  im Kreise hoch um das Haus sich wiegen, wie sie mit Flügeln klatschen und mit dem inneren schneeigen Weiß des Flügels das Sonnenlicht blendend auffangen! Jetzt setzen sie sich für eine Weile alle auf’s Dach – wie ein bunter Strauß großer Magnolien – weiß,  braun, stahlblau –, dann heben sie sich wieder wie auf Kommando in die Luft u. machen wieder ein Dutzend Runden – alle zusammen in treuer Schar. Man muß ja den Tag ausnutzen, das süße Sonnenlicht bis auf die Neige kosten. Und wieder u. wieder eine Runde …

Inzwischen erreicht der summende, keuchende, pochende Lärm im Innern des großen Gefängnisses seinen Höhepunkt. Es scheint, als ob er sich gegen den Schluß des Tages selbst überschlüge. Das eilige Schlüsselgerassel u. Gepolter wird betäubend. Endlich die erlösende letzte dröhnende Signalglocke: eins – zwei – drei – und wie mit einer großen Schere abgeschnitten, verstummt der Lärm. Der Eintritt der Abendstille ist so jäh u. unvermittelt, daß  meine Nerven jedes Mal einen Schock kriegen u. in den Schläfen ein stechender Schmerz zuckt. Doch nun ist Ruhe. Die Brust atmet erleichtert. Der verstummte Hof u. das schweigende Riesenhaus scheinen plötzlich ganz verändert, sinnend u. träumend zu stehen…

Sie wollen mich schon verlassen, gnädige Frau? O bitte, noch ein Weilchen! Sie schauen fragend auf mein verschmitztes Lächeln, auf meine  Blicke nach oben? Ja, dort oben kommt noch ein Hauptstück der Vorstellung, die ich so frei war, für Sie zu bestellen … Sehen Sie, wie sich dort hoch – hoch am Himmel leichte rosige Wölkchen sammeln? Gott weiß, woher sie kommen! Der Himmel war ja klar u. blau, nun wimmelt er ganz von kleinen Wimpeln, die im zartesten Rosa leuchten, – so friedlich wie ein Lächeln, so ganz anders als die roten Morgenwolken. Die dunkle Glut vor Sonnenaufgang hat etwas von Geburtswehen, von düsterer Tragik der Ahnung. Diese Abendwölkchen hier sind wie unschuldige, spielende Kinder, wie die Töne vom Angelus-Glöcklein einer stillen Dorfkirche.

Der ganze Himmel wogt u. lächelt in Rosa. Die Bühne ist gezimmert, das Spiel kann beginnen. Zirr – Zirr! Hören Sie die metallischen Töne aus der Höhe, wie eine feine silberne Schraube? Und sehen Sie die dunklen Schleifen aufblitzen in schwindelnder Höhe? Es sind die Schwalben! Als letzte Gäste des Tages führen sie jetzt im Herbst jeden Abend unter rosigen Wolken ihr munteres Luftspiel auf, bevor sie uns Valet  sagen u. nach Ägypten, nach Mexiko verreisen. Wie kühn u. fröhlich frei stürzen sie sich und schießen durch den leuchtenden Raum! Zirr – Zirr! Klingt es immerzu in der Höhe – ade! ade! Wir scheiden bald, doch kommen wir nächstes Jahr wieder! Zirr – Zirr! …

Mörike behauptet, daß die Schwalben »singen« können, u. zwar auf einem Baum sitzend. Kennen Sie sein Gedicht »Ein Stündlein wohl vor Tag«?[3]

»Derweil ich schlafend lag,
Ein Stündlein wohl vor Tag,
Sang vor dem Fenster auf dem Baum
Ein Schwälblein mir – ich hört’ es kaum,
Ein Stündlein wohl vor Tag:

Hör an, was ich Dir sag’,
Dein Schätzlein ich verklag’:
Derweil ich dieses singen tu’,
Herzt er ein Lieb in guter Ruh’,
Ein Stündlein wohl vor Tag.

O weh! Nicht weiter sag’!
O still! nichts hören mag!
Flieg ab, flieg ab von meinem Baum!
– Ach, Lieb’ und Treu’ ist wie ein Traum
Ein Stündlein wohl vor Tag.«[4]

Ist das nicht ein herrliches  Gedicht? So einfach u. ergreifend, wie ein Volkslied. Aber Schwalben auf einem Baum sitzen u. singen habe ich noch nie gesehen. Der einzige Laut, den ich von der Schwalbe kenne, ist dieses Zirr-zirr beim Abendspiel hoch in der Luft.

Und plötzlich, wie es begonnen, ist das Spiel auch zu Ende. Die Schwalben sind verschwunden, die rosigen Wölkchen erloschen. Dämmerung u. Stille senkt sich kühl auf die Erde. Über Timners Essigfabrik steigt schweigend das blasse Gesicht des Mondes auf. Unten im Hof schleicht auf  leisen Sohlen der Kater Mulle auf Raub. Er sieht so unheimlich aus, wie ein Zauberer, – ich habe fast Angst vor ihm; er hat schon etwas von den Geheimnissen der Nacht an sich … Jetzt huscht lautlos vor meinem Fenster ein dunkler Schatten, – die Fledermaus…

Der Tag ist zu Ende, vorbei – nie kehrt er wieder. Wie eine Perle sinkt er in den Ozean der Ewigkeit hinab…

Schöne Dame, darf ich jetzt Ihr Händchen ergreifen, um Sie nach Hause zu geleiten? Hier ist schon Ihre rebenbewachsene Villa. Haben Sie vielen, vielen Dank für den lieben Besuch, den Sie mir in den luftigen Hallen meiner Phantasie abgestattet haben, und nehmen Sie fürlieb mit dem Wenigen, was eine arme Gefangene zu bieten hatte. Doch auch ein König kann schließlich seinen Gast nicht höher ehren, als daß er ihm Sonne, Mond und die Erde in ihrer grünen Pracht zu Füßen legt. Gnädige Frau, gute Nacht! 

R. L.

Fußnoten

  1. Unter der Überschrift Heiteres aus Gefängnissen schrieb Mathilde Jacob später u. a. von dieser Begegnung: »Die Gattin des derzeitigen belgischen Justizministers [Juliette Carton de Wiart] … wurde während des Krieges im Jahre 1915 vorübergehend in das Berliner Weibergefängnis Barnimstraße gesteckt […] Mme … wollte sich ihrer Mitgefangenen gern bemerkbar machen und pfiff, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu bot, unter dem Zellenfenster Rosa Luxemburgs die ›Internationale‹, in die Rosa nach wenigen Versen einstimmte. Kurze Zeit nach dieser musikalischen Verständigung wurden die beiden Inhaftierten auf dem Gefängnishof spazieren geführt, und es gelang ihnen, die diensttuende Beamtin soweit zu gewinnen, daß sie sich trotz strengen Verbotes miteinander unterhalten konnten. Die Spaziergänge auf dem Gefängnishof wiederholten sich und damit auch die Unterhaltungen, sehr zum Entzücken der Mme…, die alles daransetzte, um zu dieser ihr so angenehmen Abwechslung in dem preußischen Kerker zu kommen. Als Mme… nach kurzer Zeit wieder in Belgien war, erzählte sie ihren dortigen Freunden von ihrem Kerkererlebnis. Ein belgischer Redakteur fand Gefallen daran und teilte seinen Lesern das interessante Ereignis mit. So kam der Vorfall auch in die deutsche Presse, und eine hohe preußische Obrigkeit sandte eine Zeitung des strafwürdigen Inhalts an die Oberin des Gefängnisses nach der Barnimstraße. ›O, so eine Unverschämtheit! Nein, wie die Zeitungen lügen‹, rief die Frau Oberin aus, ›und wie dumm diese Lügen sind, Mme… sprach kein Wort deutsch, ich selbst konnte mich absolut nicht mit ihr verständigen, es ist ja völlig ausgeschlossen, daß sie sich in meinem Gefängnis unterhalten hat.‹ In ihrer heiligen Einfalt vermochte sich Frau Oberin nicht vorzustellen, daß Rosa Luxemburg ebenso gut französisch wie deutsch sprach.« Siehe Sozialistische Politik und Wirtschaft (Berlin), Hrsg. Dr. Paul Levi, Jg. 2, Nr. 44 vom 17. Juli 1924. – Siehe auch Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914–1919. Hrsg. und eingel. von Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann. In: IWK, 24. Jg., Dezember 1988, Heft 4, S. 465.
  2. Siehe Arno Holz: Phantasus. Eine Auswahl mit einem Geleitwort von Alfred Döblin, Leipzig 1981, S. 19f.
  3. Siehe Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1/1: Gedichte. Ausgabe von 1867. Erster Teil. Text. Hrsg. von Hans-Henrik Krumacher, Stuttgart 2003, S. 28.
  4. Kleine Korrekturen durch die Redaktion, vorwiegend bei der Interpunktion.

Rosa Luxemburg: Die Geheimnisse eines Gefängnishofes, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 7/2, Berlin 2017, S. 1012-1019.